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Töchter auf Zeit

Töchter auf Zeit

Titel: Töchter auf Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Handford
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Anhieb. Bei mir musste alles erst angepasst werden. Und dem geschulten Auge entging nicht, wie oft ich schon auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt worden war.
    Claire war sechs Jahre älter als ich und mit ihren 1,62 Metern gute zehn Zentimeter kleiner als ich. Bei Goldman Sachs hatte ihr Boss ihr den Spitznamen »Dynamo« verpasst, weil ihr niemals die Puste ausging. Sie schuftete scheinbar mühelos 14 Stunden am Tag, schleppte Großkunden an und verstand es, sich auch bei den ganz Großen durchzusetzen. Mit ihrem flotten Bubikopf und ihren großen schokoladenfarbigen Augen hielt man sie für ein liebes und nachgiebiges Wesen, doch da täuschte man sich gewaltig. Claire war der härteste Mensch, denich kannte; sie war die Sorte Mutter, die mit einer Hand einen tonnenschweren SUV hochheben konnte, weil ein Kind darunter eingeklemmt war.
    In der Highschool und auch noch auf dem College wollte ich um jeden Preis anders sein als Claire. Claire war konservativ, trug Sachen von Ann Taylor und schleppte einen Tagesplaner mit sich herum. Ich dagegen zog nur gebrauchte Klamotten an, die ich mir im Lagerhaus der Army oder bei der Heilsarmee besorgte, verabscheute Regeln und kam grundsätzlich zu spät. Claire ging dann immer hoch wie eine Rakete, denn sie hasste es, wie ich mich aufführte – sie zeigte also genau die Reaktion, die ich provozieren wollte.
    Das Komische daran war, dass ich nicht sagen konnte, dass ich Claire nicht mochte, so wie sie war, oder dass ich
nicht
wie sie sein wollte. Ich wusste nur allzu gut, dass ich als Claire niemals so gut sein würde wie Claire als Claire.
    Die Kinder der Förderklasse übten gerade, Purzelbäume zu schlagen, doch für mich sah das eher nach umgekippten Schildkröten aus als nach Nachwuchsturnern. Maura hatte den typischen Körperbau einer Dreijährigen: leichtes Hohlkreuz, vorstehendes Bäuchlein und krumme Beinchen. Ihre Unterhose spitzte unter ihrem Turnanzug in schimmerndem Blau hervor. Sie war ein süßes Mädchen, mit ihrer Pigtail-Frisur und ihren großen Augen, die wie Diamanten strahlten.
    »Meine Gene bei der Arbeit«, sagte Claire und deutete auf Maura, die auf der Seite lag, ihre Knie fest umklammerte und jauchzte: »Ich bin ein Gürteltier! Schau mal, wie ich mich verbiegen kann!«
    »Ich liebe es, wie sie sich alle drei Sekunden nach dir umdreht. Sie prüft ständig, ob du auch zusiehst.«
    »Maura ist ein richtiger Klammeraffe«, sagte Claire. »Ich mache mir schon Sorgen. Sie müsste etwas härter sein, mehrStärke zeigen.« Claire ballte die Hand zur Faust und drosch damit in die Luft.
    »Hallo? Sie ist erst drei Jahre alt, Claire«, sagte ich. »In ihrem Alter sind Kinder einfach nur knuffig und verletzlich. Du willst schließlich keinen General aus ihr machen, oder?«
    Claire lächelte mich an und bot mir ein Stück von ihrem Erdnussbutter-Cookie an. Er war lecker, leicht angebrannt, außen knusprig und innen noch weich.
    »Deine sind besser«, sagte Claire. »Am liebsten mag ich deine Cookies mit Erdnussbutter und Schokostückchen.«
    »Moms Rezept.«
    »Ehrlich?«
    »Streng genommen«, erinnerte ich mich, »hab ich das Rezept aus einem Kochbuch, das Moms Mutter selbst verfasst und ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Also Omas Rezept.«
    »Oma starb, als ich noch recht jung war«, meinte Claire. »Ich glaube, du warst noch gar nicht auf der Welt.«
    »Die Frauen unserer Familie sterben jung«, sagte ich und wollte es witzig klingen lassen. Aber es war wirklich so. Unsere Mutter, die sich liebevoll um uns gekümmert hatte, hatte uns viel zu früh verlassen, nachdem sie ihren jahrelangen Kampf gegen den Krebs verloren hatte.
    »Der Fluch, der auf unserer Familie lastet«, stimmte mir Claire zu.
    »Wenn Mom gewusst hätte, dass sie mit vierzig sterben würde, glaubst du, sie hätte dann Kinder in die Welt gesetzt?«
    »Nichts auf der Welt hätte sie davon abbringen können«, erwiderte Claire. »Doch wenn sie ihr Schicksal gekannt hätte und etwas daran hätte ändern können, dann hätte sie bestimmt gewollt, dass du bei ihrem Tod schon etwas älter bist, als du es damals warst. Ich glaube, das Schlimmste für sie war, dass du gerade erst mit der Highschool anfingst.«
    »Ich habe es ihr nicht einfacher gemacht«, gab ich zu und erinnerte mich daran, wie ich durch unser Haus geschlichen war, mir entsetzlich leidtat und welchen Panzer ich mir zugelegt hatte: Kopfhörer, aus denen rührselige Stücke von The Cure dröhnten, oder mein Skizzenblock,

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