Töchter des Schweigens
Zündschlüssel ab.
»Du kannst ja im Auto bleiben, bis du dich wieder gefasst hast. Ich geh schon mal rein. Es ist fast elf, und ich möchte die Mädels vorher noch begrüßen.«
Sole steigt aus, streicht ihr Kleid glatt, schlüpft in die Jacke, greift nach ihrer Handtasche und sieht dann endlich ihre Mutter an, die sich in der letzten Viertelstunde in eine alte Frau verwandelt hat, eine dumme, grausame, groteske alte Frau, für die sie nur noch Abscheu und Verachtung empfindet. Sie holt die Puderdose aus der Tasche und schaut in den kleinen Spiegel. Sie sieht aus wie immer. Sehr blass, aber ansonsten wie immer. Genau wie damals wird ihr niemand ansehen, was mit ihr los ist.
Unterdessen ist auch die Mutter aus dem Wagen gestiegen und blickt sich um, als wüsste sie nicht recht, wo sie ist und was sie dort zu suchen hat.
In diesem Moment erscheint eine Frau in der Tür der Trauerhalle, zündet sich eine Zigarette an und schaut mit einer gewissen Neugierde zu ihnen herüber. Sie ist groß, schlank, mit sehr kurzem Haar und einer kirschroten Brille mit eckigen Gläsern. Sie trägt schwarze Jeans und ein schwarzweißes T-Shirt mit einem Porträt von Lou Reed.
»Marga, bist du das?«, ruft Sole und läuft auf die Frau zu, die, als sie sie erkennt, die Zigarette aus dem Mund nimmt und ihr mit dem unverwechselbaren Lächeln ihrer Schulfreundin entgegensieht.
Eng umschlungen und erfüllt von einer seltsamen Mischung aus Freude und Trauer gehen sie in das Friedhofsgebäude. Soles Angst verflüchtigt sich, als Rita ihr den Arm um die Schultern legt und ihr eine Kraft und eine Sicherheit vermittelt, die sie längst verloren glaubte. Im Eingangsbereich treffen sie Tere, die den Saal verlassen hat, um zu telefonieren, als sie jedoch Sole sieht, steckt sie das Handy ein und schließt sie fest in die Arme.
»Süß siehst du aus, wie immer«, sagt sie ihr ins Ohr. »Und mit tausend Armreifen, wie immer.« Beide lachen. »Weißt du, dass ich immer an dich denken muss, wenn ich Armreifen klingeln höre?«
Sole steigen die Tränen in die Augen. Sie hätte nie damit gerechnet, dass Tere an sie denkt.
»Komm, sag den anderen Hallo. Sie sind alle drin bei Lena. Nach der Zeremonie bringen wir ihre Asche nach Caprala zu diesem Pinienwäldchen, das sie so geliebt hat, und ich habe in der Casa Mateo einen Tisch reserviert, damit wir noch eine Weile zusammen sein und uns in Ruhe unterhalten können. Du kommst doch mit, nicht wahr? Oder hast du es eilig?«
»Nein. Ich habe es nicht eilig. Natürlich komme ich mit euch.«
In dem Separee, in dem Lena aufgebahrt ist, sieht Sole auch die anderen wieder, und es gibt Umarmungen, die Sole aufrichtig scheinen, Blicke, die sich bemühen, nicht allzu indiskret zu sein, so herzlich lächelnde Gesichter, als wären seit dem letzten Mal keine dreißig Jahre vergangen.
Lena ist im Tod hübscher als im Leben. Ihr Gesicht wirkt wie aus Porzellan, weil die Falten auf der Stirn und um die Augen verschwunden sind und ihr Profil schärfer ist. Man hat sie in eine tiefblaue Seidentunika mit kleinen Silberornamenten gekleidet und ihr Haar offen gelassen. Alles ist voller Blumen, vorwiegend Tulpen und Narzissen, Lenas Lieblingsblumen, und ein Korb Veilchen, die Sole telefonisch bestellt hat, und die im Juni beschaffen zu können man ihr nicht versprechen mochte. Aber da sind sie, intensiv duftend, perfekt, wie die, die im Frühling um Margas Landhaus blühten. Hinter dem Sarg stehen sechs Bäumchen, als bewachten sie Lenas Kopf: ein Orangenbaum, ein Kirschbaum, ein Mandelbaum, ein Zitronenbaum, ein Apfelbaum und ein Granatapfelbaum.
Obwohl keine Zeit war, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen, sind mehr Leute gekommen, als Teresa erwartet hat; im Ort spricht sich alles schnell herum, und Lena wurde offenbar sehr geschätzt. Viele der anwesenden Frauen sind Patientinnen von Teresa, auch die Mütter einiger Freundinnen sind gekommen und etliche Männer, die zu Lebzeiten nicht viel Kontakt zu Lena hatten, aber trotzdem Abschied von ihr nehmen wollen. Manolo ist da, sehr ernst, im dunklen Anzug; David, der sich in die letzte Reihe gesetzt hat, als wäre er auf dem Sprung; Chimo, der nicht nur ihr ehemaliger Schulkamerad, sondern seit Jahren ihr Steuerberater war; Jaime, ihr Zahnarzt und Freund.
Als alle Platz genommen haben, erhebt sich Teresa.
»Liebe Freundinnen und Freunde«, sagt sie und schaut voller Zuneigung in die Runde. »Wie fast immer, wenn es etwas zu organisieren gilt – und darüber
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