Töchter des Schweigens
hat, viele emotionale Tiefschläge einstecken musste und sie sich deshalb nicht mehr so ohne Weiteres auf nähere Beziehungen einlässt. Der unerwartete Tod ihres Vaters, der keine sechzig Jahre alt geworden ist, hat sie anscheinend schwer getroffen und auch der Verlust des Häuschens auf dem Land, was für uns, die wir im Ort geblieben sind, nur schwer nachvollziehbar ist. Doch stellt El Campo , dieses herrliche Stückchen Erde, wo wir jenen Geburtstag gefeiert haben, das Bindeglied zu einer Vergangenheit dar, zu der sie zurückkehren konnte, und nun den Verlust ihrer Wurzeln.
Jetzt lebt sie mit Ingrid zusammen, einer Freundin, die zugleich ihre Privatsekretärin ist, und deren Kindern. Angeblich soll Rita lesbisch sein, das wirst du sicher in irgendeiner Zeitschrift oder im Internet gelesen haben, aber mir waren die sexuellen Neigungen anderer Leute eigentlich schon immer egal, und was Rita angeht, so möchte ich nur, dass sie glücklich ist mit einem Menschen ihrer Wahl. Aber, wie gesagt, sie wirkt heiter, voller Lebensfreude und Zukunftspläne und scheint sich keine Sorgen um Alter und Tod zu machen, was sehr angenehm ist, denn für Frauen unseres Alters ist das offenbar das Thema Nummer eins, das mit dem Älterwerden, meine ich. Vom Tod reden wir alle nicht, weil wir davon ausgehen, dass uns mit etwas Glück noch mehr als dreißig Jahre bleiben, um all das zu tun, was wir gern noch tun wollen.
Ich, zum Beispiel, habe mich entschlossen, wieder nach Indien zu gehen, nur eine Urlaubsreise, erschrick nicht, nichts mit religiöser Bekehrung oder mystischer Sinnsuche. Ich glaube, ich bin es mir selbst schuldig, noch einmal an die Orte zu fahren, wo ich mit Nick so glücklich war und den schlimmsten Schmerz meines Lebens erlitten habe. Ich denke, es könnte eine heilsame Reise werden, eine Befreiung von meinen Gespenstern.
Und vielleicht kann ich die Mädels, oder eine von ihnen, ja überreden, noch einmal mit mir nach Mallorca zu fahren, um zu spüren, dass das Leben weitergegangen ist, dass die Zeit nicht stehen geblieben ist in jenem Sommer, dass sich kein Mensch mehr daran erinnert oder dafür interessiert, was eine Gruppe von Mädchen, beinahe Frauen, dort während ihrer Abiturfahrt erlebt haben. Es ist Zeit zu vergessen, die Seite umzublättern, nach vorne zu schauen.
Wie du siehst, an Projekten fehlt es mir nicht, und jetzt, da Jeremy meine finanzielle Unterstützung nicht mehr braucht, kann ich nach Belieben über meine Einkünfte verfügen. Vielleicht kann ich ja Candela überreden, mit mir hinzufahren. Wir leben beide allein, und ich würde ihr gern etwas schenken, nicht zur Wiedergutmachung dessen, was sie für mich getan hat, sondern damit sie weiß, dass ich es nicht vergessen habe und es nie selbstverständlich fand.
Da fällt mir ein, wir könnten ja auch dich in Havanna besuchen. Bestimmt hast du ein schönes Haus mit einem Gästezimmer. Carmen wird bald in deiner Gegend sein, auf Kreuzfahrt. Ich werde ihr sagen, sie soll dich besuchen, wenn sie Zeit hat.
Nur du fehlst, damit wir vollzählig sind, Sole. Hättest du keine Lust auf einen Blitztrip? Wir könnten uns alle am 28. Juni in der Kneipe treffen. Ich würde es niemandem verraten, und plötzlich würdest du auftauchen wie aus dem Hut gezaubert. Denk mal darüber nach. Oder nein, denk nicht darüber nach. Setz dich ins Flugzeug und komm! Wir lieben dich, Sole. «
Als Sole verstummte, war es minutenlang so still, dass man eine Feder hätte fallen hören. Sole ging zu ihrem Platz zurück und schloss Teresa, die aufgestanden war, in die Arme. Beide weinten.
Dann traten vier Friedhofsangestellte ein, um den Sarg zur Einäscherung zu bringen, doch die anwesenden Männer, alle sichtlich erschüttert, hoben ihn selbst auf und trugen ihn zu dem Förderband, während aus den Lautsprechern Halleluja von Leonard Cohen ertönte, Lenas Lieblingssänger.
Die Freundinnen standen alle zusammen in der ersten Reihe, hielten einander unter Tränen in den Armen oder an den Händen und blickten auf den Sarg mit dem Leichnam ihrer Freundin, die gerade noch durch die von Sole gelesenen Worte zu ihnen gesprochen hatte.
Als kurz darauf ein dunkel gekleideter Angestellter Teresa die Urne übergab, gingen sie zurück in den Raum, in dem noch die Bäumchen standen, und jede der Freundinnen wählte eines aus, nahm etwas Asche und vergrub sie mit bloßen Händen zwischen den Wurzeln. Aus den Lautsprechern klang Good Night, Ladies von Lou Reed, ein Song, der denen,
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