Töchter des Schweigens
Toleranz und Dialog den Bach runter, ohne eine starke Hand, die die Geschicke der Nation lenkte.
»Bis dann, Manolo!« Chimo ging an ihm vorbei, ohne innezuhalten.
»He, Mann, du bist ja noch da. Gehen wir ein Bier trinken?«
Chimo überlegte einen Moment. Er hatte keine große Lust, aber Manolo, dem nicht einmal eine Zigarette zum Vorwand diente, stand vor der Tür wie ein herrenloser Hund.
»Na los! Aber viel Zeit habe ich nicht. Ihr Reichen könnt Däumchen drehen, ich weiß, aber ich muss schuften.«
Manolo lachte dröhnend, klopfte Chimo auf die Schulter und ging mit ihm in die Cafeteria.
1974
Es ist sieben Uhr abends. Die Sonne, schon sehr tief und von glühendem Orange, fällt schräg durch die Badezimmerfenster des Hotels und taucht alles in ein wundervolles rötliches Licht. Die Mädchen stehen vor den Spiegeln, frisch geduscht und von der Sonne am Pool gebräunt, föhnen die langen Haare, schminken sich, überlegen, was sie anziehen sollen, probieren die Sachen ihrer Freundinnen, lachen überschwänglich über alles und jeden, üben die ausländischen Namen, die ihnen über die Zunge holpern wie magische Formeln: Sven, Björn, Aki, Markkus, Olaf, Erik … Endlich ist Schluss mit den Pepes, Pacos, Luises …, und keine hat an diesem Abend vor, mit ihren Schulkameraden zu tanzen, obwohl sie sie in Palma treffen werden, denn dazu haben sie das ganze Jahr über im Copacabana und in den cuartelillos Gelegenheit gehabt. Bestimmt waren auch die Jungen begierig, Brittas, Sviettas und Gudruns kennenzulernen, hochgewachsene, hellhäutige, blonde Mädchen mit großen Brüsten, die unter den T-Shirts wippten, mit langen Beinen und wenigen Hemmungen.
Trotzdem ist es gut zu wissen, dass die Jungs da sind, falls etwas passiert, falls irgendein Ausländer zudringlich werden und mehr verlangen sollte, als die Mädchen zu geben bereit sind. Und dann sind da ja auch noch Don Telmo, der, wie sie jetzt wissen, bei Bedarf äußerst unangenehm werden kann, und Don Javier, der zwar Priester, aber auch ein Mann ist, der ihnen beispringen würde.
Wie ein Schwarm Schmetterlinge flattern sie aus den Zimmern, nachdem sie einen letzten Blick in den Spiegel geworfen und sich gegenseitig versichert haben, was sie bereits wissen: Sie sehen traumhaft aus. Auch wenn sich einige zu dick und andere zu dünn und alle ihren Busen entweder zu groß oder zu klein finden oder meinen, nicht die vorteilhaftesten Sachen zu tragen oder dass eine andere im Vergleich zu den übrigen besonders beeindruckend ist, so wissen sie doch, dass sie ein aufsehenerregendes Grüppchen sind, während sie den in der Dämmerung bereits bläulichen Garten durchqueren und sich von der Meeresbrise und den Blicken der Rentner liebkosen lassen, die am Schwimmbad ihre Handtücher einpacken. Sie sind unschlagbar. Sie sind unsterblich.
»Kommt Reme doch nicht mit?«, fragt Doña Marisa, hübscher denn je in dem langen weißen Ibiza-Kleid, das sie sich gerade gekauft hat und das die Bräune ihrer ohnehin dunklen Haut vorteilhaft zur Geltung bringt.
»Sie hat immer noch schlimme Kopfschmerzen«, schwindelt Marga mit ihrer durch viele Notlügen geschulten Unverfrorenheit. »Ich habe gerade nach ihr gesehen, und sie liegt im Bett im abgedunkelten Zimmer. Sie sagt, sie hat nicht einmal Hunger und wir könnten ruhig gehen.«
»Ich weiß nicht. Ich würde sie ungern allein lassen.«
»Soll ich bei ihr bleiben?«
»Aber nein. Manolo spielt verrückt, wenn du nicht kommst!« Doña Marisa ist die einzige Lehrkraft, die unverblümt das Privatleben ihrer Schülerinnen kommentiert, wenngleich das gesamte Kollegium weiß, wer mit wem zusammen ist.
»Er wird schon eine Tanzpartnerin finden, keine Sorge.«
»Würdest du wirklich bleiben?«
»Ich leiste Marga Gesellschaft«, mischt sich Candela ein. »Hier gibt es auch eine Disko. Und Schweden …« Sie zwinkert Doña Marisa zu, die sie baff anstarrt, da solche Scherze sonst nicht Candelas Art sind. Diese Reise tut ihr ausgesprochen gut; fast scheint sie aus Fleisch und Blut zu sein, statt aus poliertem Stein.
»Ich weiß nicht …«
»Stell dich nicht so an, Marisa.« Don Javier treibt die Mädchen wie ein Hirte in den Speisesaal, wo das Abendessen serviert wird. »Sie sind alt genug, außerdem lässt du sie ja nicht ohne Wasser in der Wüste zurück.«
Eineinhalb Stunden später ist der Minibus mit allen anderen verschwunden, und Candela packt Marga bei den Schultern und wirbelt sie unter Freudengeschrei durch die
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