Töchter des Schweigens
Jahre lang keinerlei Kontakt hatten, noch immer die Freundin von damals ist? Ich heiße nicht einmal mehr so …«
»Teresa heißt auch nicht mehr so wie früher. Und sie hat dir erzählt, dass Magda sich jetzt Lena nennt, und seit Sole den Diplomaten geheiratet hat, möchte sie lieber Marisol gerufen werden. So originell bist du gar nicht, Schätzchen.«
Der Kaffee duftete köstlich, und nach der ersten Tasse fühlte Rita sich langsam besser und hörte Ingrid zu, die schwatzte und bester Laune war, fast als hätte sie vergessen, dass ihre beiden Kinder zum ersten Mal zu Besuch bei ihrem Vater in Kuba waren.
»In der Konditorei gab’s einfach alles. Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, um mich zu entscheiden. Sieh dir nur diese Röllchen an! Und die Petit Fours, und diesen Biskuit, dem ich einfach nicht widerstehen konnte. Na los, greif zu, ich weiß ja, dass du eigentlich nicht frühstückst, aber wir sind doch im Urlaub … Und die Leute sind so nett …, sie haben mir gleich gesagt, wo ich Kaffee und Tee bekomme. Dann bin ich auf den Markt gegangen und habe ein bisschen Fisch und ein paar Meeresfrüchte gekauft. Was für Meeresfrüchte, Rita! Alles frisch aus dem Mittelmeer …«
»Ich dachte, wir würden ausgehen zum Essen. Es ist doch Unsinn, die Küche dreckig zu machen und nachher wieder putzen zu müssen …«
»Überlass das nur mir.«
»Meinst du, ich soll da hingehen, Ingrid?«
»Noch mal von vorn? Ja, natürlich.«
»Aber du kommst mit.«
»Ich habe da nichts zu suchen.«
»Keine Einwände. Ich brauche moralische Unterstützung.«
»Probier eins von diesen.«
»Das sind pepitos . Da ist Vanillecreme drin.« Sie lächelte, als sie Ingrids Blick sah. »Manche Dinge vergisst man anscheinend nie.«
»Du musst um elf beim Notar sein, und heute Nachmittag um vier hast du den Termin beim Makler, denkst du daran?«
»Ja, ja, ich denke daran. Ich dachte, wir seien im Urlaub.«
»Ich bin immer noch deine P.A. «
»Schon gut. Aber jetzt brauche ich dich als Freundin.«
Ingrid schloss sie einen Moment lang fest in die Arme, dann ließ sie sie los und verwuschelte ihr das Haar.
»Mach dich ein bisschen zurecht, und wenn wir noch Zeit haben, gehen wir ein Stück spazieren, und du fängst an, mir die Stadt zu zeigen.«
»Das Dorf«, korrigierte Rita sie.
»Aber es hat mehr als fünfzigtausend Einwohner und schon seit über einem Jahrhundert den Status einer Stadt. Das habe ich bei Google gefunden.«
»Für mich ist es immer noch das Dorf.«
»Mach schon, zieh dich an. Was Leichtes, es ist heiß draußen.«
Während Ingrid in der Küche hantierte, ging Rita ins Bad, wusch sich ein wenig – die Dusche war absolut vorsintflutlich – und nahm eine Sommerhose und ein kurzärmeliges T-Shirt aus dem Koffer.
Auf Tante Doras Toilettentisch blickten Dutzende von Fotos aus ihren staubigen Rahmen, Überreste eines Lebens, das es nicht mehr gab: sie, ihr Bruder und ihre Eltern in Alicante; Onkel Damián, der starb, als sie noch sehr klein war; ihre Tante und ihre Mutter auf einem Ball, beide in langen Kleidern und mit Perlenketten; Bilder von Hochzeiten, Kommunionfeiern und Seniorenreisen …, und auf allen wurde gelächelt, falsch gelächelt, mit gebleckten Zähnen. Oder vielleicht auch nicht, vielleicht war das Lächeln im Moment der Aufnahme echt gewesen, wie das der Clique vom 28sten, ein unschuldiges Lächeln, das nicht ahnte, was die Zukunft bringen würde.
Ihr schauderte bei dem Gedanken, dass die meisten der Gesichter, die Tante Doras Toilettentisch schmückten, längst als Totenschädel in Pinienholzsärgen in der Finsternis ihrer Gräber lagen. Sie war froh, dass ihre Eltern eingeäschert worden waren. Die Vorstellung, sie würden hinter der Mauer der Familiengruft langsam verwesen wie Tante Dora, war ihr zuwider.
»Bist du so weit?« Ingrids Stimme kam aus dem Flur.
Sie schnappte ihre Tasche, die Unterlagen für den Notar und ihre Sonnenbrille und eilte zu ihr hinaus.
3. Juni 1974
Es ist achtzehn Uhr, und alles ist bereit für die große Geburtstagsparty. Mama und Tante Dora backen in der Küche noch die letzten Tortillas, während Papa und Tony sich mit den Lichterketten abmühen, die sie unbedingt überall aufhängen will und die aufzutreiben sie ihre liebe Not gehabt hat, weil sie die Läden abklappern und in den hintersten Winkeln der Lagerräume nach Resten von Weihnachtsschmuck stöbern musste. Die Girlanden und Lampions waren leichter zu finden und hängen bereits zwischen den
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