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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elia Barceló
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wir uns sehen.«
    »Sag mir die Wahrheit, verdammt noch mal!«
    »Es war ein Unfall«, sagt Rita nach ein paar Sekunden.
    »Dann ist es also wahr.«
    »Aber glaubst du denn immer noch, es gibt eine einzige Wahrheit, die Wahrheit in Großbuchstaben?« Rita schreit fast. »Meinst du wirklich, es gibt eine echte Wahrheit, nur eine, ohne Standpunkte, ohne Umstände, ohne Einschränkungen?«
    »Für die Justiz gibt es nur eine einzige Wahrheit.«
    »Dass ich nicht lache!«
    »Erzähl’s mir, Rita. Erzähl mir das Ganze aus deiner Sicht, und ich verspreche dir, ich werde versuchen, dich zu verstehen und dir zu glauben, aber ich muss es wissen.«
    »Ich habe es dir doch schon gesagt. Es war ein Unfall. Und ich habe dir auch gesagt, dass ich es dir nicht am Telefon erzählen kann. Es ist eine sehr lange Geschichte, und ich muss weit zurückgreifen, damit du es verstehen kannst, damit du mir glaubst und nicht auf irgendetwas hereinfällst, das dir Gott weiß wer erzählt.«
    »Candela hat es mir gestern erzählt«, sagt Ingrid wieder mit fester Stimme. »Sie hat mir gesagt, dass sie im Sterben liegt und mir etwas mitteilen will, über das ich Bescheid wissen müsste, um über unsere Zukunft entscheiden zu können. Man lügt nicht, wenn man im Sterben liegt, Rita.«
    Candela. Ist das eines ihrer Geschenke? »Was hat sie dir erzählt?«
    »Es ist eine lange Geschichte, wie du ja selbst sagst, aber grundsätzlich scheint es zu stimmen. Es ist wahr, dass du jemanden umgebracht hast.«
    Rita ist so müde, dass sie diese absurde frühmorgendliche Unterhaltung nur noch beenden will.
    »Also schön, ja. Es stimmt. Wenn dich das Umfeld, die Motive, die Feinheiten nicht interessieren, dann ist es wahr, dass ich vor dreiunddreißig Jahren jemanden umgebracht oder zu seinem Tod beigetragen habe. Es stimmt. Reicht dir das?«
    Wieder entsteht ein Schweigen, in dem eine Art unterdrückter Schluckauf zu hören ist.
    »Ja. Im Moment reicht mir das.«
    »Wann kommst du zurück?«
    Wieder Schweigen.
    »Ich weiß es nicht, Rita. Wahrscheinlich fliegen wir nächste Woche direkt nach London. Die Kinder und ich … Und Guillermo.« Das Letzte war kaum ein Murmeln und kam erst nach ein paar Sekunden.
    »Sieh mal an! Guillermo auch.«
    »Er hat ein Engagement in einem Londoner Underground-Ensemble, das eine Tournee durch Schottland vorbereitet.«
    »Und du willst ihn bei uns wohnen lassen. Aber doch nur vorläufig, bis er etwas gefunden hat, oder?«
    »Nein, Rita. Wir werden eine Wohnung mieten, wir vier. Wir wollen versuchen, wieder eine Familie zu sein.«
    Es bleibt so lange still, dass Ingrid glaubt, die Verbindung sei unterbrochen, und ruft: »Rita? Rita? Bist du noch dran? Hörst du mich?«
    »Ich bin noch da«, sagt sie endlich. »Das ist schon beschlossen, nehme ich an. Nett von dir, mir Bescheid zu sagen.«
    Sie weiß, dass Ingrid jetzt schwer schluckt, dass sie leidet, doch mit einem Mal ist es ihr egal, ob sie leidet. Sie will, dass sie leidet, wie sie.
    »Überleg doch mal, Rita. Unsere Lebensverhältnisse waren unnatürlich. Wir waren beinahe ein Paar, eine Familie aus zwei Frauen und zwei Kindern. Wie soll sich Shane zwischen zwei Frauen entwickeln?«
    »Wie alle Jungen, die beispielsweise mit einer verwitweten Mutter und einer Tante oder Großmutter aufgewachsen sind. Völlig normal.«
    »Und ich? Seit wie vielen Jahren gehe ich nicht aus, wie lange schon gibt es keinen Mann in meinem Leben? Für dich ist das leicht, aber für mich …«
    »Lassen wir’s gut sein, Ingrid. Ich kann nicht mehr. Candela ist vor vier Stunden gestorben.«
    »Dann bist du also Witwe«, sagt Ingrid mit einer Grausamkeit, die Rita ihr nie zugetraut hätte.
    »Hat Candela dir das auch erzählt?«
    »Sie hat gesagt, am Ende ihres Lebens hätte sie festgestellt, dass Geheimnisse verheerend sind und man alle Winkel ausleuchten muss, damit es nirgends Schatten gibt, weil sich in den Schatten die Ungeheuer verstecken.«
    »Möglicherweise hat sie recht«, sagt Rita angewidert, unendlich müde. »Also«, setzt sie hinzu und bemüht sich, heiter zu klingen, »wann ziehst du aus?«
    »Gib mir ein paar Wochen, Rita. Ich muss etwas finden, das für uns vier groß genug ist, die Kinder umschulen, meine Sachen packen … du weißt schon.«
    »Such etwas für drei. Guillermo wird sich nie wieder blicken lassen, wenn er erst einmal in Europa ist. Entschuldige. Das ist deine Angelegenheit.«
    »Ich werde mir auch einen anderen Job suchen, Rita. Ich hoffe, du verstehst

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