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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elia Barceló
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war, denn was sich in den letzten Stunden in diesem Raum zugetragen hat, übersteigt alle ihre Erfahrungen, doch ist ihnen klar, dass Reme keineswegs ein unschuldiges Opfer ist.
    »Wolltest du das?«, brüllt Tere. Und Reme senkt den Kopf und nickt wortlos.
    »Mein Gott!«
    Die Mädchen sehen sich an und sind vor Schreck wie gelähmt.
    »Herr im Himmel, was machen wir denn jetzt?«, stöhnt Carmen. »Wir haben ihn umgebracht. Wir haben ihn umgebracht!«
    Marga schaut sich um wie eine Ratte auf der Suche nach einem Schlupfloch. Ihr Blick bleibt an dem gepackten Koffer hängen, den befremdlichen Gegenständen auf dem Toilettentisch, der kettenbewehrten Unterhose auf dem Sessel …, und ihr scheint eine Idee zu kommen, die noch keine rechte Form annehmen will.
    Die Leiche des Mannes liegt immer noch still auf dem Boden, übersät von Schrammen und Bisswunden, umgeben von Blut, das aus der Nase, unter der Gesichtsmaske hervor und über die Fliesen geronnen ist.
    »Als Erstes«, sagt Marga, und automatisch wenden sich alle ihr zu, bereit, auf jeden Vorschlag einzugehen, der sie aus dieser Lage befreit, »müssen wir ihn hier rausschaffen und den Boden gründlich saubermachen, damit keine Blutspuren mehr zu sehen sind.«
    »Und was machen wir mit ihm?«, fragt Candela, die zu ihrer gewohnten Geistesgegenwart zurückgefunden hat.
    »Die Klippe. Wir müssen ihn zur Klippe bringen und hinunterwerfen. Wenn er auf die Felsen geprallt ist, fällt das alles nicht mehr so auf.« Sie weist auf die Verletzungen, die der rasende Zorn der Mädchen hinterlassen hat. »Aber zuerst müssen wir ihm die Badehose anziehen, damit es so aussieht, als wäre er nachts schwimmen gegangen, wenn man ihn findet.«
    »Seine Tasche steht da«, kommt Reme ihr zu Hilfe.
    »Such eine Badehose.«
    »Warum ist seine Tasche hier?«, fragt Tere in der Befürchtung, damit könnte es eine besondere Bewandtnis haben.
    »Olaf will …«, Reme schluckt hart, »… wollte morgen zeitig abreisen. Also, heute. Er hatte an der Rezeption schon alles erledigt.«
    »Gut! Ein Problem weniger.« Wie immer, wenn es darauf ankommt, wirkt Marga gelassen, man sieht förmlich, wie sie mit Hochdruck nachdenkt.
    »Seine Sachen nehmen wir mit und entsorgen sie im Lauf des Tages. Jetzt müssen wir ihn zur Klippe tragen, bevor es hell wird. Hier wimmelt es von Rentnern, die alle früh aufstehen. Reme, nimm auch ein Handtuch mit. Das lassen wir an der Brüstung liegen. Nun zieh ihm schon die verdammte Badehose hoch! Und zieh ihm die Stiefel aus, und nimm ihm das Ding vom Gesicht.«
    Als sie Olaf die Maske abnehmen, kommt darunter ein Gesicht zum Vorschein, das trotz der gebrochenen Nase erstaunlich weich und jung aussieht, und alle wenden den Blick ab.
    »Los! Wenn alle mit anpacken, schaffen wir das.«
    Fast überfordert es ihre Kräfte, den Toten den Spazierweg hinauf bis auf den höchsten Punkt der Klippe zu schleppen, aber die Verzweiflung ersetzt die schwindende Energie. Der Mond ist untergegangen, und außer dem Wellenschlag gegen die Felsen und dem einsamen Schrei einer frühen Möwe ist nichts zu hören. Am Horizont zeigt sich ein zarter heller Schimmer.
    »Los, los, beeilt euch, noch ein Stückchen!«
    Als sie den Leichnam schließlich auf die Brüstung gewuchtet haben – neben dem Warnschild No diving – Springen verboten  –, sind sie außer Atem und frösteln in den schweißnassen Kleidern, die ihnen auf der Haut kleben.
    »Noch eine letzte Anstrengung!«, ermuntert Marga die anderen.
    Die Steilküste fällt senkrecht ab, und tief unten brandet das Meer weiß schäumend gegen die Felsen, die von oben aussehen wie die Zähne eines urzeitlichen Tieres, das beutehungrig den Rachen aufreißt.
    Alle gemeinsam stoßen sie die Leiche hinunter, die sofort verschwindet und vom strudelnden Wasser verschlungen wird.
    »Wenn die Strömung ihn ins Meer hinauszieht, sind wir gerettet«, sagt Marga und spricht damit aus, was alle denken. »Wenn nicht …«
    »Wenn nicht«, versetzt Candela, »sind wir weit weg, wenn sie ihn entdecken, alle brav zu Hause. Und uns hält kein Mensch für etwas anderes als ein paar Teenager auf Klassenfahrt. Er wollte heute abreisen. Im Moment wird ihn niemand vermissen. Hatte er Familie?«, fragt sie, an Reme gewandt.
    »Er hat gesagt, dass er allein lebt, seine Eltern wohnen in einer anderen Stadt.«
    »Hoffentlich stimmt das. Hat jemand eine Zigarette?«
    Alle haben ihre Handtaschen in Remes Zimmer oder im Garten fallen lassen.
    »Und jetzt?«,

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