Töchter des Schweigens
trotzdem geschafft, alles mit Papier vollzustopfen.«
»Das ist bei Übersetzerinnen nun mal so, weißt du? Außerdem schrieb sie Gutachten für zwei Verlage.«
»Esoterische, vermutlich.«
»Einer ja, der andere nicht.«
»Und was war der andere für einer? Ein Kochbuchverlag?«
Teresa schnaubte leise, verstimmt von der Respektlosigkeit und Gefühlskälte Jeremys, der seine Mutter anscheinend für halb schwachsinnig hielt.
»Für Reiseliteratur und Anthropologie.«
»Verrate mir mal, was meine Mutter mit Anthropologie am Hut hatte! Reisen mag ja noch angehen. Sie war ihr Leben lang auf der Flucht.«
»Das musst gerade du sagen! Ich erinnere mich, dass du Kurse im Ausland besucht hast, seit du denken kannst. Kurse, für die sie gearbeitet hat wie ein Maulesel, um sie dir zu ermöglichen.«
Jeremy zuckt mit den Schultern und verlässt das Zimmer.
»Warte! Wenn du gehst, nimm wenigstens diesen Stoß Manuskripte mit und wirf sie in den Papiercontainer. Den Verlagen habe ich schon geschrieben und sie von ihrem Tod in Kenntnis gesetzt, und sie haben gesagt, wir können alles wegwerfen, man werde sich die Manuskripte noch einmal schicken lassen.«
Jeremy kommt wieder herein und packt den Papierstapel energisch in zwei große Plastiktüten.
»Jeremy«, sagt Teresa, obwohl sie das Thema eigentlich nicht anschneiden wollte, »darf ich fragen, warum du einen solchen Hass auf deine Mutter hast?«
Der junge Mann sieht den festen Blick in Teresas Augen und weiß, wenn er jetzt nicht antwortet, wird sie sich höchstwahrscheinlich umdrehen und gehen, und er wird sich allein um alles kümmern müssen. Also zieht er die Schultern hoch, holt tief Luft und lässt sich auf einen Stuhl fallen.
»Weil sie mich angelogen hat. Sie hat mich mein ganzes Leben lang angelogen, was meinen Vater betrifft, und dann war sie nicht einmal in der Lage, ihn ausfindig zu machen, damit ich ihn kennenlernen und mit ihm reden kann.«
»Sie hat nie in Erfahrung bringen können, was passiert ist, Jeremy. Sie hat unablässig nach ihm geforscht. Sogar in letzter Zeit noch, nach all den Jahren, hatte sie unsere Freundin Sole, die Diplomatenkreisen angehört, gebeten, sie bei ihrer Suche zu unterstützen. Und was die Lüge angeht … Was soll ich sagen? Was würdest du deinem Kind sagen, solange es noch klein ist? Es ist besser zu denken, dein Vater wäre tot, als nicht zu wissen, wo er ist, oder nicht zu wissen, ob er dich im Stich gelassen hat. Meinst du nicht?«
»Natürlich hat er mich im Stich gelassen.«
»Lena hielt das immer für völlig unmöglich.«
»Meine Mutter war naiv. Eine naive Lügnerin.«
»Nun hör aber auf damit!«
»Lügen ist für Amerikaner ein Reizthema, Tere«, mischt sich Rita ein, die bisher schweigend dem Gespräch gefolgt war. »Ist dir noch nicht aufgefallen, dass es in über siebzig Prozent der Hollywood-Filme um jemanden geht, der irgendwann gelogen hat und nachher nicht weiß, wie er sich wieder herauswinden soll? Ihr Präsident kann allen möglichen Irrsinn anstellen, das ist halb so wild. Es sei denn, die Öffentlichkeit glaubt, er hat absichtlich gelogen. Dann rasten sie aus.«
Der Blick, den Jeremy Rita zuwirft, ist Hass im Reinzustand. Sie lächelt und zündet sich eine Zigarette an, weil sie weiß, dass es ihn stört. Er hat ihnen bereits erklärt, er sei militanter Nichtraucher und wolle nicht, dass in seinem Haus geraucht wird. Er nennt Lenas Wohnung immer »mein Haus«.
»Ach!«, setzt Rita noch einmal nach. »Offenbar verabscheust du zwar Lügen, kannst aber die Wahrheit nicht vertragen. Interessant!«
»Ich habe dir gesagt, ich will nicht, dass du in meinem Haus rauchst.«
»Das lässt sich leicht umgehen. Ich verziehe mich in die Bar. Kommst du mit, Teresa?«
Teresa steht sofort auf, zieht die Wohnungsschlüssel aus der Tasche und hält sie Jeremy hin. In diesem Moment kommt Ana mit einem Tablett herein, auf dem vier Gläser Limonade klingeln. Jeremy nimmt sich eins, stürzt es in einem Zug hinunter, schnappt die Säcke mit den Manuskripten und sagt, schon in der Tür: »In einer Stunde bin ich wieder da, einverstanden?«
Die drei Frauen wechseln einen Blick und grinsen Jeremy nach, während er durchs Treppenhaus davoneilt.
»Ich verschwinde auch«, sagt Ana. »Ricky und David werden bald aus dem Schwimmbad kommen. Wollt ihr mit uns zu Abend essen?«
»Lieber morgen«, erwidert Rita, »wenn du nichts dagegen hast. Ich bin todmüde und will nur noch ins Bett.«
»Kopf hoch, meine Liebe!
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