Töchter des Schweigens
zehn Minuten später in den kleinen Weg ein, der zu El Campo führte. Allerdings war dieser mittlerweile asphaltiert und von Straßenlaternen und Reihenhäuschen gesäumt, die wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden geschossen waren.
Das Haus stand noch, obwohl es sichtlich verfiel. Wo einst ein herrlicher mediterraner Garten gewesen war, erstreckte sich nun ein aufgewühltes Stück Land, bewachsen von hohem, kräftig grünem Unkraut, das im Sommer gelb und verdorrt sein würde. Der Efeu, der früher den gesamten Zaun überrankt und sie vor den Blicken der wenigen Nachbarn geschützt hatte, war herausgerissen, sodass die ganze Verwahrlosung jetzt auf eine Weise offen lag, die ihr unanständig und würdelos erschien. Am Gitter des Eingangstors, von dem die Witterung im Lauf der Zeit alle Farbe geschält hatte, hing ein Schild: CORTESSA CONSTRUCCIONES .
Wahrscheinlich wartete die Baufirma darauf, dass die Grundstückspreise hochgingen, um auf dem Boden ihrer Kindheit noch mehr Reihenhäuser zu bauen.
Sie fühlte, wie ihr die Tränen kamen, und ein Schluchzen stieg ihr in die Kehle. Sie verfluchte Tante Dora und diesen Joaquín, den Schwachkopf, den sie geheiratet hatte, als sie schon über fünfzig war, und von dem sie sich hatte überreden lassen, El Campo zu verkaufen.
Der Olivenbaum war jedenfalls noch da. Sehr mitgenommen, nicht mehr so üppig, wie sie ihn in Erinnerung hatte, aber stark und imposant, stolz auf seine mehr als dreihundert Jahre.
Sie warf einen Blick über die Schulter und kletterte kurz entschlossen über das Eisentor, wobei sie sich insgeheim wunderte, wie genau sie noch wusste, wohin sie die Füße setzen und mit den Händen greifen musste, ging dann durch das hohe Gesträuch und lehnte eine Minute später die Stirn an den Stamm des alten Olivenbaums, durchströmt von dem Gefühl, heimgekehrt zu sein.
Das Licht und die Schatten waren noch genau wie in ihrer Erinnerung, und wenn sie dem Haus den Rücken zuwandte und sich ganz still verhielt, schien die Zeit stehen geblieben zu sein.
In fünf Tagen war der 3. Juni. Vor dreiunddreißig Jahren waren es auch nur noch fünf Tage bis zu ihrer Party gewesen, dieser wundervollen Party, der letzten ihres Lebens, denn seither hatte sie nie wieder ihren Geburtstag gefeiert. Jetzt waren es nicht mehr achtzehn, jetzt waren es einundfünfzig Jahre. Ihre Eltern waren gestorben, ihr Bruder lebte in Neuseeland, Tante Dora lag seit einem Jahr unter der Erde, und El Campo würde bald ebenso verloren sein, sobald die Baumaschinen kamen, die Erde plattwalzten und unter ihren Rädern und Schaufeln alle Andenken an ihre Kindheit und Jugend zermalmten, die wenigen Wurzeln, die ihr noch geblieben waren.
»Wie konntest du mir das antun, Tante Dora? Wie konntest du mir das Einzige nehmen, das mir etwas bedeutet hat?«
Ihr Handy klingelte. Sie riss sich zusammen, vermutete, die Anruferin wäre Ingrid, und blickte aufs Display. Dort stand jedoch Carmens Name.
»Rita Montero«, sagte sie gewohnheitsmäßig.
»Hey, du klingst aber förmlich! Als würde man bei einer Bank anrufen. Was machst du gerade?«
»Nichts Bestimmtes«, log sie.
»Wollen wir zusammen etwas trinken gehen? Ich komme eben vom Sport und hab mir gedacht, ich ruf dich mal an und frag dich, ob du Lust auf einen Daiquiri hast.«
»Morgens um Viertel nach elf?«
»Du kannst auch ein Mineralwasser bestellen.«
»Gut. Wo treffen wir uns?«
»Im Cotton Club . Eigentlich ist da noch zu, aber Chema, der Barkeeper, ist ein Freund von mir.«
»Wo ist das?«
»Weißt du noch, wo die Großmutter von Manolo gewohnt hat?«
»Ja. Calle Dávila.«
Carmen lachte auf.
»Du hinkst ja schwer hinterher, meine Liebe. Die Straße heißt natürlich schon lange nicht mehr Dávila, der war schließlich ein franquistischer General, aber stimmt, genau da. Im Nachbarhaus. Mach’s gut, ich warte auf dich.«
Rita beendete die Verbindung mit einem geistesabwesenden Lächeln und warf noch einen Blick auf das alte Schwimmbecken mit den rissigen Mauern, das mit schlammigem, grünem Wasser gefüllt war, übersät von ockerfarbenen Schaumflecken, auf denen sich mit unbegreiflichem Eifer Hunderte von Insekten tummelten.
Sie fand den Cotton Club auf Anhieb. Tatsächlich hatte Manolos Großmutter direkt nebenan gewohnt, doch war ihr Haus – wie die meisten Häuser der Straße – durch ein siebenstöckiges Gebäude ersetzt worden.
Das Rollgitter des Lokals war noch geschlossen, aber als sie darauf zuging, kam ihr von drinnen
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