Töchter des Schweigens
ein junger Mann entgegen, schob es mit einem Lächeln hoch und ließ es hinter ihr wieder herab. Carmen saß schon an einem Tisch in der Nähe der Bühne, beleuchtet von einem rosa Scheinwerfer. Ihr weißes Polohemd schien kurz davor, von ihrem Wonderbra gesprengt zu werden.
»Chema, Schätzchen«, sagte sie, noch bevor sie Rita begrüßte, »du kannst schon mal anfangen zu zaubern. Wo hast du Ingrid gelassen?«
»Sie musste ins Reisebüro. Wir sehen uns nachher zum Essen, nehme ich an.«
»Dann stimmt es also, dass du lesbisch bist?« sagte Carmen bemüht beiläufig.
»Weil ich mit Ingrid esse?« Rita lächelte.
»Mir ist das ja völlig schnurz. Aber findest du es nicht ekelhaft, mit einer Frau zu schlafen?«
»Du findest es doch auch nicht ekelhaft, mit Felipe zu schlafen.«
Carmen lachte laut.
»Na ja, manchmal ein bisschen, das geb ich zu. Aber ich hab halt keinen anderen. Einem geschenkten Gaul guckt man nicht ins Maul.«
»Abgesehen davon, Carmen, schlafe ich nicht mit Ingrid.«
Chema brachte zwei eiskalte Daiquiris und stellte sie auf zwei schwarzblaue Untersetzer mit dem Logo des Clubs.
»Sie sind Rita Montero, nicht wahr?«, fragte er.
Sie nickte.
»Ich habe alle Ihre Filme gesehen. Ich finde sie großartig. Man nennt Sie ja den neuen Alfred Hitchcock, aber das stimmt nicht. Sie sind noch viel besser.«
»Oh, vielen Dank.«
»Das meine ich ernst. Die Getränke gehen aufs Haus. Kommen Sie, wann immer Sie wollen. Abends haben wir hier gute Musik, manchmal live. Im Moment läuft nur das Radio, aber wenn Sie etwas Bestimmtes hören wollen, brauchen Sie es mir nur zu sagen.«
Er zog sich lächelnd zurück, und Carmen, ihren Daiquiri in der Hand, beugte sich gespannt vor.
»Was soll das heißen, du schläfst nicht mit Ingrid?«
»Herrje, du bist aber indiskret! Das kann dir doch egal sein.«
»Candela versucht uns schon seit Jahren einzureden, du seist lesbisch und sie habe es schon immer gewusst. Und da ich dich jetzt in Reichweite habe, will ich es aus erster Hand wissen. Das verstehst du doch, oder nicht? Na los, verrat’s mir, komm schon.«
Rita holte tief Luft, nahm einen Schluck aus ihrem Glas, steckte sich eine Zigarette an und sah Carmen fest in die Augen, bis sie beide lachen mussten.
»Na gut, ich bekenne. Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt.«
Beide kannten die Formel, die sie vor einer Ewigkeit im Katechismus-Unterricht hersagen mussten.
»Als ich nach London kam, wusste ich selbst nicht einmal, ob ich mich mehr für Männer oder für Frauen interessierte. Meine einzige Erfahrung war seinerzeit Manolo …«
»Aber zwischen Manolo und dir ist doch nie etwas passiert«, fiel ihr Carmen ins Wort. »Entschuldige. Aber er hat mir halt erzählt, dass du ihn nie rangelassen hast.«
»Dann wird es wohl so sein. Ich weiß es nicht mehr. Tatsache ist, dass London damals das Paradies der ›freien Liebe‹ war, erinnerst du dich noch an diesen Begriff? Ein paar Jahre lang habe ich ziemlich viel herumprobiert. Ich habe eine Weile in einer Art Kommune gelebt, dann war ich mit einem Mädchen zusammen, später hatte ich fast ein Jahr lang eine Beziehung mit einem Mann, einem Professor der Filmhochschule, der wesentlich älter war als ich …«
Carmen nippte an ihrem Daiquiri und hing gebannt an Ritas Lippen.
»Aber auch ich wurde älter, und irgendwann kam der Moment, in dem ich erkannte, dass ich einer dieser raren Menschen bin, die gut auf Sex verzichten können. Ich brauche Freundschaft, Gesellschaft, Zärtlichkeit, Vertrauen, Sicherheit … aber eine sexuelle Beziehung vermisse ich nicht.«
»Du bist schon ein seltsamer Vogel!«
»Und dann habe ich Ingrid kennengelernt. Sie war mit ihrem zweiten Kind schwanger, das Mädchen hatte sie schon, und ihr Mann, ein schlichtweg unerträglicher Kubaner, hatte sie gerade wegen einer anderen verlassen. Sie brauchte Arbeit, Unterstützung und ein Dach über dem Kopf, also habe ich sie als Sekretärin engagiert und ihr angeboten, erst einmal bei mir zu wohnen, bis sie sich darüber klar wäre, was sie machen wollte. Das war vor zwölf Jahren. Shane kam zu Hause zur Welt, ich war bei der Geburt dabei. Glynis und Shane sind fast ebenso sehr meine Kinder wie Ingrids. Ich habe alles durchgemacht, was eine Mutter durchmacht, mit Ausnahme der Schwangerschaft und der Geburtsschmerzen. Als mein Vater starb, zog meine Mutter zu uns, so hatten die Kinder eine Oma. Und obwohl sie nie genau wusste, in welcher Beziehung wir zueinander standen,
Weitere Kostenlose Bücher