Töchter des Schweigens
dass ich euch noch antreffe, Mädels! So eine Frechheit, ihr habt alles aufgegessen! Marga! Was für eine Freude, dich zu sehen! Du hast dich überhaupt nicht verändert! Nein, was rede ich? Du siehst besser aus!«
»Und du bist fast so dürr wie ich, aber genauso hübsch wie früher.«
»Das liegt an dem Leben, das ich führe. Hebamme zu sein ist schrecklich. Aber wenn du gesehen hättest, was für ein wunderschönes kleines Geschöpf ich eben entbunden habe …«
»Wenn ihr jetzt anfangt, vom Gebären zu reden, haue ich ab.« Candela scheint sich wieder erholt zu haben und steht abrupt auf. »Nicht doch, euch kann man aber auch alles weismachen! Ich gehe nur was für Ana bestellen. Was willst du? Deinen unvermeidlichen Toast mit eingelegten Sardellen?«
Als Candela an den Tisch zurückkommt, dreht sich die Unterhaltung bereits um die in zehn Tagen beginnende Moros-y-Cristianos-Fiesta – das große Fest zum Gedenken an die Reconquista, zu dem sich die Bewohner als Mauren oder Christen verkleiden, Umzüge veranstalten und Schlachten nachstellen – und die Pläne der Freundinnen für die Festtage.
»Wenn ihr Lust habt, lade ich euch zu einem Mädelsessen ein. Meine beiden Männer bleiben über die Feiertage im Ort, weil sie bei den Mauren mitmachen, aber mir ist der Tumult zu groß. Oder habt ihr schon was vor?«, fragt Ana.
Alle verneinen lachend, als fänden sie inzwischen absurd, worüber sie sich früher monatelang die Köpfe zerbrochen haben: das Festprogramm, ihre Garde, das Kostüm, das jährlich ausgeliehen werden musste, ein eindrucksvolles, originelles Make-up, die Umzüge, die Nächte im cuartelillo , dem Treffpunkt und Generalquartier ihrer Truppe … Heute bleiben die einen wegen der Kinder zu Hause; die anderen, deren Kinder schon groß sind, verziehen sich ins Appartement am Strand, ins Wochenendhaus, wohin auch immer … Und außer Ingrid, die eine Reise durch Andalusien geplant hat, nehmen alle Anas Einladung an.
Sie verlassen die Bar leicht beschwipst vom Bier, vom Rotwein und von dem Apfellikör, den Carmen unbedingt noch bestellen musste, und umarmen sich zum Abschied, während Ingrid sich von allen die Telefonnummern aufschreibt, um bis dahin in Kontakt zu bleiben.
Ohne ein Wort tritt Candela auf Rita zu und schließt sie fest in die Arme. Bevor sie ihr zwei Küsse auf die Wangen drückt, wispert sie ihr ins Ohr: »Ich habe dich all die Jahre vermisst, dummes Ding. Ruf mich an.«
Dann geht sie allein die schlecht beleuchtete Gasse zum Rathaus hinunter, und Rita sieht sie in der Ferne immer kleiner werden, während sie einer vagen Erinnerung nachhängt, die nicht recht Gestalt annehmen will.
Mai 2007
Rita schlug die Augen auf und wusste einen Moment lang nicht, wo sie war. Von rechts schien die Sonne herein, und an der Zimmerdecke, zu der sie aufsah, war in einer Ecke der Putz abgeblättert. Zudem roch es eigenartig, nach einem unbekannten Waschmittel, doch hatte sie so viele Nächte ihres Lebens in so vielen Hotels verbracht und wusste aus Erfahrung, dass sie nur die Augen noch einmal schließen musste, damit ihr Gehirn endgültig in Gang kam und ihr die notwendigen Informationen lieferte; also machte sie sie wieder zu, streckte ein Bein aus – niemand, sie lag allein im Bett – und fand die Antwort: Tante Doras Wohnung, Tante Doras breites Bett, der Tag nach dem Wiedersehen mit den Mädels. Sie entspannte sich noch kurz, stand dann aber sofort auf und begann, Pläne zu schmieden. Wie so oft hatte sie von El Campo geträumt, und jetzt, da sie Gelegenheit hatte, mit eigenen Augen zu sehen, was daraus geworden war, wollte sie diese auch unbedingt nutzen. Allerdings war das etwas, das sie allein tun wollte, ohne Ingrid. Darum zog sie sich leise an, hinterließ eine Nachricht auf dem Küchentisch und stahl sich aus dem Haus. Es war schon fast zehn. Sie würde unterwegs in irgendeiner Bar rasch einen Kaffee trinken und zu jenem Ort fahren, der für sie das Paradies ihrer Kindheit symbolisierte. Ingrid wollte ein Reisebüro aufsuchen, um ihre Rundreise durch Andalusien zu organisieren, und wenn ihr noch Zeit blieb, würde sie sich gewiss in der Wohnung umschauen und überlegen, was aufbewahrt werden und wovon man sich trennen sollte. Ingrid hatte einen Sinn fürs Praktische, der die perfekte Ergänzung zu ihrer kreativen und leicht chaotischen Art war.
Rita stieg in den Mietwagen, zündete sich die erste Zigarette des Tages an, nahm, ohne an den Kaffee zu denken, die Landstraße und bog
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