Töchter des Schweigens
guter, deshalb haben sie sie Ingrid getauft, nach Ingrid Bergman. Ich weiß nicht, an das Fest habe ich gar nicht gedacht, aber du hast recht, vielleicht würde es ihr Spaß machen.«
»Dann kann sie auch zu dem Mädelsessen kommen. Ich glaube, es wäre besser, sie dabeizuhaben.«
»Besser?« Rita war nicht klar, was Carmen damit meinte. Offenbar gab es da etwas, das Carmen nicht aussprechen mochte, wobei sie aber davon ausging, dass Rita auch so verstand, worauf sie hinauswollte.
»Wenn eine Außenstehende dabei ist, reden wir nicht den ganzen Abend über vergangene Zeiten.«
»Und was ist so schlimm daran, über vergangene Zeiten zu reden? Wir haben Jahrzehnte nachzuholen. Ich zumindest, die ich seit einer Ewigkeit nichts von euch weiß.«
»Da gibt es nicht viel nachzuholen. Du siehst ja, ich habe dir in fünf Minuten mein Leben erzählt und weniger als drei Daiquiris gebraucht, um eine Menge über dich zu erfahren. Wenn du das hochrechnest auf die übrigen vier, bist du in zwanzig Minuten auf dem Laufenden, und wir können anfangen, uns zu amüsieren.«
Chema servierte die Daiquiris, räumte die leeren Gläser und den schmutzigen Aschenbecher ab und stellte einen sauberen und ein Schälchen Erdnüsse hin.
»Wenn ich euch nicht was zum Knabbern bringe, werde ich euch noch nach Hause tragen müssen«, sagte er wie zur Entschuldigung. Carmen lächelte ihm gedankenverloren zu und scheuchte ihn mit einer Handbewegung weg, als verjagte sie eine Fliege.
»Wisst ihr etwas von Sole?«, fragte Rita.
»Marisol. Sie heißt jetzt Marisol wie die Sängerin in unserer Kindheit. Erinnerst du dich noch an die Filme?« Rita nickte, eine Zigarette zwischen den Zähnen. »Mit was für einem Mist man uns zugeschüttet hat! Wenn wir die amerikanischen Filme nicht gehabt hätten …«
»Von denen es auch solche und solche gab …«
»Ja, aber besser waren sie schon, das musst du zugeben. Wie auch immer … Sole. Sie hat in Madrid Jura studiert, frag mich nicht, warum. Dann hat sie sich einen andalusischen Großgrundbesitzer aus Sevilla geangelt, ebenfalls Rechtsanwalt, einen Diplomaten. Sie haben in der Kathedrale von Sevilla geheiratet, mit allem Pipapo, das weiß ich, weil sie mich eingeladen hatten, und Manolo war das ganze Wochenende mies gelaunt, weil er sich immer für reich gehalten hatte, bis er diese Prasserei mitansehen musste. Danach haben sie wer weiß wo gelebt, erst in Afrika, glaube ich, danach in Asien … alles sehr exotisch. Sie haben drei Kinder. Sole war nie in ihrem Beruf tätig, sondern immer nur Diplomatengattin. Und manchmal schlägt er sie. Wahrscheinlich entspannt ihn das, weil er doch so viel Verantwortung zu tragen hat.« Sie verzog das Gesicht, als fände sie ihren Scherz selbst nicht sehr gelungen.
»Und woher weißt du das?«
»Von meiner Mutter. Sie ist mit Soles Mutter befreundet, die ihrer Tochter rät, der Familie zuliebe durchzuhalten, damit keine Geschiedene aus ihr wird, damit die Kinder nicht ohne Vater aufwachsen müssen, dieser ganze Quatsch, du weißt schon.«
»Aber gesehen habt ihr sie nicht mehr …«
»Nein. Sole kommt nie her. Ihre Mutter reist hin, um sie zu besuchen. Zurzeit sind sie in Peru oder Chile. Weißt du noch, dass Sole Feministin war?«
»Damals waren wir alle Feministinnen.«
»Ich nicht. Ich habe nur versucht zurechtzukommen, so gut es ging. Ich wusste schon immer, dass die Männer fast alle Scheißkerle sind, man aber nicht ohne sie leben kann. Bei mir war das weniger theoretisch.«
Ritas Handy begann lautstark zu klingeln, und der Ton hallte in dem leeren Lokal wider.
»Wenn es Ingrid ist, kannst du ihr ja sagen, sie soll vorbeikommen, und wir trinken noch einen.«
Rita schüttelte den Kopf und bedeutete ihr mit abwehrenden Gesten, dass sie genug getrunken hatte.
»Du kannst mitessen, wenn du Lust hast«, sagte sie zu Carmen, wobei sie die Sprechmuschel zuhielt. »Ingrid hat einen Fisch im Ofen, der reicht für drei.«
»Nein, Süße. Ich gehe jetzt nach Hause, lege mich ein Weilchen aufs Ohr – beauty sleep nennt sich das –, dann sehe ich im Laden mal nach dem Rechten, und heute Abend treffe ich mich mit Felipe, um die Einzelheiten der Reise zu besprechen. Ich bin sehr beschäftigt, wie du siehst.«
»Na gut«, sagte Rita und nahm die Hand vom Telefon. »Ich bin in fünf Minuten da, Ingrid. Nein, Carmen kommt nicht mit, sie hat zu tun.«
»Hau ab, hau schon ab.« Carmen wedelte mit der Hand in Richtung Tür, als wollte sie sie loswerden.
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