Töchter des Schweigens
schöne Wetter schien den halben Ort aus dem Haus gelockt zu haben, um einen Spaziergang zu machen, im Restaurant zu Abend zu essen oder einfach von einer Tapas-Bar zur nächsten zu ziehen und von dem bevorstehenden Moros-y-Cristianos -Fest zu reden, mit dem die Gedanken der Leute offenbar vollauf beschäftigt waren, wie sie den im Vorübergehen aufgeschnappten Gesprächsfetzen entnehmen konnte. Alle Hauptstraßen waren bereits mit Lichterketten geschmückt, und auf den Bürgersteigen wurden Tribünen aufgestellt, um Sitzplätze für das Publikum der verschiedenen Aufmärsche zu schaffen.
In der Luft lag eine Euphorie, die mit einem gewöhnlichen Dienstag unvereinbar schien. Alle diese Menschen, die sich in den Straßen tummelten, mussten am nächsten Tag arbeiten, machten aber ganz und gar nicht den Eindruck, als wollten sie zeitig zu Bett gehen.
Wieder einmal ertappte sie sich dabei, dass sie wie eine Touristin dachte, wie eine Ausländerin, und verfluchte sich dafür. Als ob sie nicht haargenau wüsste, wie sich die Einwohner von Elda knapp drei Tage vor Beginn des großen Festes fühlten!
Doch das Gespräch mit Candela und die Begegnung mit Manolo hatten sie aufgewühlt, und die Aussicht, schon gleich wieder mit anderen zusammen sein zu müssen, behagte ihr nicht besonders. Wie kam Ingrid in diese Runde? Unter welchem Vorwand? Schließlich kannte sie die Clique doch überhaupt nicht, aber Schüchternheit war noch nie Ingrids Problem gewesen. Deshalb war sie auch eine so gute Assistentin. Was immer zu bewerkstelligen war, Ingrid bewerkstelligte es.
Die Plaza Mayor wimmelte von Menschen. Alle Tische waren besetzt, und überall standen scharenweise die Leute mit Gläsern in den Händen, schwatzend und lachend, während die kleinen Kinder ausgelassen zwischen den Beinen der Erwachsenen umherflitzten, ohne dass man ihnen große Beachtung schenkte.
Schon wollte sie Ingrid wieder anrufen, damit sie ihr den Weg wies, als sie das Grüppchen an einem Tisch im hinteren Bereich der Plaza erspähte. Alle standen auf, um sie zu begrüßen, und Ana stellte ihr ihren Mann vor: David Cuevas, den berühmten Polizisten. Er war wirklich ein gut aussehender Mann. Anfang vierzig, groß, kräftig, mit hellem Haar. An seiner Seite wirkte Ana noch kleiner und schmächtiger, und jedes Mal, wenn er sich bewegte, etwa als er sich auf die Suche nach der Kellnerin machte, um Rita ein Getränk zu bestellen, folgte sie ihm verzückt mit den Augen, als könnte sie nach zehn Jahren Ehe noch immer das Glück nicht fassen, ihn gefunden zu haben.
»Wie kommt es, dass du schon wieder da bist?«, fragte Ingrid.
»Candela hatte eine Verabredung zum Abendessen. Wir haben nur etwas zusammen getrunken, und dann habe ich mich entschieden zurückzufahren. Ich hatte keine Lust, allein in Alicante herumzuhängen.«
»Candela ist ganz schön dreist!«, sagte Ana. »Erst lässt sie dich nach Alicante kommen, und dann schickt sie dich weg wie Gräfin Rotz.«
Rita zuckte mit den Schultern.
»Sie hat halt immer sehr viel Arbeit«, nahm Lena Candela in Schutz. »Sie haben eine Unmenge Mandanten. Wir können froh sein, dass sie am Samstag bei unserem Essen dabei ist. Normalerweise kann sie nie, wenn wir sie wegen irgendetwas anrufen.«
»Weiß jemand, warum sie Juristin geworden ist?«, fragte Rita.
Ana und Lena sahen sie verständnislos an.
»Ich meine, ich kann mich gar nicht erinnern, dass sie das vorgehabt hätte, als wir noch auf dem Gymnasium waren. Ich habe immer geglaubt, du wolltest Rechtsanwältin werden, Ana, genau weiß ich es aber nicht mehr. Und heute hat sie von ihrem Jurastudium gesprochen wie von einem Opfer, als ob es ihr auferlegt worden wäre.«
Ana überlegte einen Augenblick, schaute sich kurz nach David um, der sich in einiger Entfernung mit zwei Männern unterhielt, und erwiderte dann nachdenklich: »Ursprünglich wollte Candela Journalistin werden. Journalistin und Schriftstellerin, wie sie sagte. Darum studierte sie in Madrid. Bis wir erfuhren, dass sie umgesattelt hatte, war sie schon mindestens im zweiten Semester. Uns hat sie immer gesagt, als sie in Madrid angekommen wäre und gesehen hätte, wie es bei den Zeitungen zuging, hätte sie beschlossen, zu den Rechtswissenschaften zu wechseln. Das Schreiben hat sie nie mehr erwähnt.«
»Nein, Ana«, widersprach Lena. »Ich weiß, dass sie lange an einem Roman gearbeitet hat, jahrelang. Einmal hat sie sogar angekündigt, uns ein Stück daraus vorzulesen, aber später sagte sie
Weitere Kostenlose Bücher