Töchter des Schweigens
habe davon erfahren, als sie legalisiert wurden. Als sie uns zur Roten Party eingeladen hat. Aber zu dieser Zeit hatte sie schon keinen Biss mehr, da war sie schon beinahe das, was sie jetzt ist.«
»Und was ist sie deiner Meinung nach jetzt?«
»Eine arme kastrierte Frau, die sich durchs Leben schleppt, als ob sie sich bei allen und jedem für alles und jedes entschuldigen müsste, als ob sie es nicht verdiente zu leben, als ob sie es ungerecht fände zu haben, was sie hat.«
»Einem echten Kommunisten kann es durchaus peinlich sein, seine Ideale verraten zu haben«, wandte Rita ein, »ein eigenes Haus und ein Auto und ein festes Einkommen zu besitzen …«
»Nein. Du weißt, dass es nicht das ist. Oder du weißt es nicht, das spielt gar keine Rolle. Du willst überhaupt nichts mehr wissen. Du hast dich in deinen Seidenkokon eingesponnen und führst darin ein geborgenes, glückliches Leben.« Sie brach ab, und ihre Miene veränderte sich. »Hast du Lust, mit mir in Urlaub zu fahren?« Die Frage klang wie eine Herausforderung, wie eine Provokation.
»In die Karibik?«, fragte Rita, um Zeit zu gewinnen.
»Irgendwohin, ganz egal. Wir könnten uns neu kennenlernen. Hör zu, wenn du dich dazu entschließen könntest und das mit der Wohnung erledigt hast, lasse ich alles stehen und liegen, und wir verschwinden. Sofort.«
Rita schüttelte sacht den Kopf.
»Warum nicht, Marga?« Candela ergriff ihre Hand und drückte sie fest, dann immer sanfter und streichelte sie schließlich zwischen ihren Händen. Dann drehte sie sie um und küsste ihre Handfläche, wie sie es vor vielen Jahren schon einmal getan hatte.
»Weil Wunder sich nicht wiederholen, Candela«, stieß Rita mit erstickter Stimme hervor.
Ihre Freundin gab ihre Hand frei, winkte mit herrischer Geste den Kellner heran und zog die Brieftasche.
»Einen Versuch war’s wert«, sagte sie, als wäre es so wichtig nun auch wieder nicht, und stand auf. »Wir sehen uns am Samstag bei Ana.«
»Gehen wir nicht zusammen essen?«
»Tut mir leid. Ich habe noch eine Verabredung und muss mich umziehen.« Das war gelogen, und sie wusste, dass Rita es wusste. »Wenn du die mexikanische Küche magst, in der Cactus Cantina kann man gut essen, und wenn du lieber heimfahren willst, bist du in spätestens zwanzig Minuten da. Wie du bemerkt haben wirst, ist die Straße mittlerweile erheblich besser ausgebaut.«
Sie umarmten sich nicht und küssten sich nicht auf die Wangen. Rita blickte Candela nach, bis diese die Glastür erreicht hatte. Ihre weiße Silhouette gegen das rote Abendlicht. Mit einem Mal befiel Rita große Trauer, fast körperlich spürte sie einen Riss, der sie aufschreien ließ.
»Candela!«
Diese wandte sich halb um, die Augen von der großen dunklen Brille verdeckt, und Rita setzte sich wieder, weil sie nicht wusste, was sie tun sollte. Es war nur ein Impuls gewesen, und jetzt fiel ihr nichts ein, was sie ihr hätte sagen können.
»Wir sehen uns am Samstag! Pass auf dich auf!«
Mit einem knappen Kopfnicken, steifer denn je, verlor sich Candela im Getümmel auf der Plaza de los Luceros.
Während der ganzen Rückfahrt nach Elda dachte Rita an das Gespräch im Sausalito und versuchte sich zu entsinnen, ob Candela schon immer so war oder ob erst das Alter, die Enttäuschungen, vielleicht sogar die Wechseljahre sie so verbittert und harsch gemacht hatten. Aber wie es ihr mit so vielem erging, was in jene Zeit gehörte, verschwamm alles, wie manchmal im Traum, wenn man nach etwas greifen will, das vor der ausgestreckten Hand immer wieder zurückweicht. Wie schlüpfrig die Erinnerung ist!, dachte sie. Und wie hinterhältig! Du glaubst, dich an eine Zeit zu erinnern, und wenn du sie dir vergegenwärtigen willst, stellst du fest, dass du lediglich ein paar Skizzen hast, ein paar unscharfe Dias, die Monate, Jahre deines Lebens umfassen. Und die einzigen Momente, die als Fadenende taugen würden, an dem du ziehen und das Knäuel entwirren könntest, sind eben die, die du am sorgsamsten unter dem Sofa zwischen Flusen und toten Insekten versteckt hältst.
Als sie an Fontcalent vorbeifuhr, entdeckte sie aufs Neue die Felsenformation, die ihr als kleines Mädchen vorgekommen war wie eine schlafende, von den Riesen ihres Hofstaats bewachte Prinzessin, und stellte mit einem Mal fest, dass diese ihr glich, dass auch sie sich – freiwillig – in eine schlafende Frau verwandelt hatte, die schöne, stimmige Geschichten träumte, beschützt von ihrem Gefolge aus
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