Töchter des Schweigens
mitgerissen zu werden, die durch die nassen Straßen von Neu Delhi tobt. Vor der britischen Botschaft findet eine Demonstration gegen irgendetwas statt, und die aufgebrachten Gesichter der Entgegenkommenden sind wie Masken, hinter denen sich die spürbar brodelnde Gewalt nur mit Mühe verbirgt.
Die Wehen kommen alle paar Minuten, und sie muss stehen bleiben, sich hechelnd an eine Mauer lehnen, während Nicks Arm ihre Taille umfasst und sein Mund ihr dicht an ihrem Ohr flüsternd Mut zuspricht.
Sie haben auf eine natürliche, komplikationslose Entbindung gehofft und gedacht, sie könnten ihr Kind gemeinsam zur Welt bringen, umgeben von ihren Freunden und der indischen Hebamme, die zugesagt hatte, ihr beizustehen, doch vor ein paar Stunden hat ihnen die zweifelnde Miene der Frau deutlicher noch als ihre Worte zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht sicher war, die Sache zu einem guten Ende zu bringen, und Nick hat spontan beschlossen, die Botschaft seines Landes um Hilfe zu bitten.
Sie haben bei allen ihren Freunden Geld für ein Taxi gesammelt, doch nachdem sie eine Weile in der Menschenflut festgesteckt hatten, die ihnen entgegenströmte, sich vor dem Wagen teilte und dahinter wieder schloss, haben sie entschieden, die eineinhalb Kilometer zum Domizil der Amerikaner zu Fuß zu gehen.
Lena, zusammengekrümmt, geschüttelt von immer heftigeren Wehen, die es dennoch nicht schaffen, den Uterus zu öffnen, damit das Baby endlich herauskann, beobachtet aus dem Augenwinkel Nicks zunehmend düstere Miene.
Er hat Angst, seine Botschaft zu betreten, das weiß sie. Er hat die Vereinigten Staaten vor knapp fünf Jahren verlassen, um nicht nach Vietnam geschickt zu werden, und gilt seitdem als fahnenflüchtig. Der Krieg ist jetzt zwar vorbei, aber keiner von beiden weiß, ob die Anklage gegen ihn noch Bestand hat, ob man sie nicht trennt, kaum dass sie sich auf amerikanischem Hoheitsgebiet befinden, und ihn für Jahre ins Gefängnis sperrt.
An dem Eisengitter angelangt, vor dem man die Wache um mehrere Männer verstärkt hat, bekommt Lena weiche Knie, und die Soldaten richten ihre Waffen auf sie, als fürchteten sie einen Trick.
»I’m American!« , schreit Nick. »We need help! My wife is in labour!«
Es ist das erste Mal, dass sie Nick »meine Frau« sagen hört, und trotz ihrer Schmerzen zaubert das Wort ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht.
Die Soldaten sehen sich unschlüssig an, und als hätte Lenas Körper den Moment genau abgepasst, bricht zwischen ihren Beinen ein Wasserschwall hervor und spritzt sie beide nass.
»She’s broken water!« , brüllt Nick, was völlig unnötig ist, denn die Wachen haben es auch bemerkt, nur sind sie alle noch so jung, dass sie nicht wirklich begreifen, was los ist. »Please, please, help her!«
Einer der Soldaten spricht in sein Walkie-Talkie, während ein anderer ins Gebäude läuft.
Lena schlottern dermaßen die Knie, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann. Sie hat Angst, ihr ist schwindelig, verzweifelt klammert sie sich an Nick. Das nasse Pflaster, die Scheiben der Autos und Häuser flirren im Licht der Straßenlaternen, der Geruch verursacht ihr Brechreiz, die Geräusche bohren sich wie Glassplitter in ihren Schädel. Die nächste Wehe lässt sie für einen Moment erblinden, und sie hört ein lang gezogenes, herzzerreißendes Heulen, als würde irgendwo ein Tier gequält. Als der Schmerz nachlässt, begreift sie, dass das Heulen aus ihrer eigenen Kehle gekommen ist, und Scham überfällt sie. Gebären ist ein natürlicher Vorgang, alle Frauen tun es, alle Tiere bringen ihre Jungen ohne Hilfe zur Welt. Das haben sie sich monatelang immer wieder gesagt, seit sie wissen, dass sie ein Kind bekommen werden, dass sie eingebunden sind in den ewigen Kreislauf des Lebens, aber das nützt jetzt nichts, jetzt gibt es mit einem Mal nur noch Schmerz und Angst.
Ein Mann kommt aus dem Haus gerannt, gefolgt von zwei Soldaten mit einer Trage, das hohe Gitter öffnet sich, der Mann schiebt Nick sanft beiseite und hilft ihr, sich hinzulegen. Sie streckt die Arme nach Nick aus, der plötzlich rückwärtsgeht und ihr dabei in die Augen sieht.
»Geh nicht weg«, flüstert sie. »Lass mich nicht allein.«
»I’ll be back« , erwidert er und hält ihren Blick fest. »Take care!«
Die Trage hebt sich, schwankt sekundenlang sacht hin und her, und dann wird Lena wieder von einer Wehe zerrissen, sie krümmt sich, schließt die Augen, und als sie sie wieder öffnet, ist Nick in der
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