Töchter des Schweigens
dass ihnen die Party so gefiel, wie sie war, dass sie nichts weiter brauchten und erst recht keine Außenstehende, die ihnen irgendwelche Überraschungen bescherte.
»Kommt, macht es euch bequem. Und du, Ana, könntest du bitte das Licht ausschalten?«
»Und jetzt«, sagte Carmen mit schleppender Stimme, »kommt die Riesentorte, der ein Boy in silbernen Unterhosen entsteigt.«
Vereinzeltes Gelächter.
»Mehr oder weniger«, erwiderte Ingrid in heller Vorfreude auf das, was sie sich ausgedacht hatte. »Tusch und Vorhang auf!«
Mitten in Anas Wohnzimmer hatte Ingrid einen alten Diaprojektor und eine faltbare Leinwand aufgebaut, auf der in diesem Moment ein Schnappschuss erschien, der sie alle vor dreißig Jahren zeigte.
»Rita, deine Geburtstagsparty!«, sagte Lena. »Das ist ja irre! Die Bilder habe ich nie gesehen. Wo hast du die her, Ingrid?«
Ingrid lächelte und klemmte die Lippen zwischen die Zähne.
»Beim Schränkeräumen in Tante Doras Wohnung gefunden. Ihr werdet schon sehen: Sie sind zu schön!«
Rita blieb zwei Meter hinter Ingrid stehen und wäre am liebsten davongerannt. Sie wollte diese Fotos nicht sehen, sie wollte nicht zurück in die Vergangenheit, sie wollte nicht lachen und sich erinnern und all diese jungen Gesichter anschauen müssen, die bereits aus ihrem Gedächtnis getilgt und durch die aktuellen ersetzt worden waren.
Candela näherte sich ihr und drückte ihr ein Glas Wodka-Orange in die Hand.
»Halt dich tapfer«, flüsterte sie, bevor sie sich wieder entfernte.
Die Frauen amüsierten sich bereits über die Mode, die die jungen Leute auf der Leinwand trugen. Rita hörte ihre Kommentare, als redeten sie in einer ihr völlig unbekannten Sprache.
»… diese Hemdkragen, du lieber Himmel … du warst bezaubernd, Lena … herrje, guckt euch bloß Manolo an, wie schlank der mal war! … und was für ein hübscher Kerl César war, was aus dem wohl geworden ist? … Rita, deine Eltern waren blutjung … ach, Sole, erinnert ihr euch noch an ihre Armreifen? … aber wie konnten wir nur so jung und uns dessen so wenig bewusst sein? … Carmen, sexy wie immer …«
Noch lachen sie, schreien fröhlich durcheinander, klopfen sich gegenseitig auf Schultern und Arme, wechseln feixende Blicke, doch Rita weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Stimmung sinkt und die Gedanken zu kreisen beginnen, in steten Runden zu kreisen wie Aasgeier über den Resten einer untergegangenen Welt, und sie würde am liebsten losbrüllen, das Kabel herausreißen, damit die Dunkelheit alles verschlingt und sie ungesehen flüchten kann. Dennoch bleibt sie still an Ort und Stelle, dreht das Glas, das sich in ihrer Hand allmählich erwärmt, raucht eine Zigarette nach der anderen, während auf der Leinwand die Bilder jenes Tages vorüberziehen und die Erinnerungen zurückkehren wie schwärmende Insekten, die sie wegschlagen möchte, damit sie ihr nicht in die Nase und in die Ohren kriechen, dort brüten und sie innerlich vergiften.
»Also, ich finde uns heute besser, Mädels«, sagt Carmen, nimmt sich Eiswürfel und gießt Gin dazu, während sie über die Schulter einen Blick auf ein Foto wirft, das sie und Manolo beim Tanzen zeigt, und keine der anderen bemerkt, wie sich ihr vor Wut der Magen zusammenkrampft. Es ist ihr peinlich, daran erinnert zu werden – und dass die anderen sich erinnern –, dass sie von diesem Deppen eine Tochter hat, dass sie mehrere Jahre mit ihm gelebt hat, dass von ebendiesem Moment an ihr ganzes Leben schiefgelaufen war. Am liebsten hätte sie sich ein Maschinengewehr geschnappt, wie in den Actionfilmen, auf die sie so steht, und drauflosgeballert, bis nichts mehr übrig wäre, aber wie immer richtet sie ihre Aggressionen gegen sich selbst, stürzt den Gin in einem Zug hinunter und hofft, der Alkohol werde ihre Gedanken in Watte packen.
Das letzte Dia ist ein Gruppenbild, über zwanzig lächelnde und schon leicht angeheiterte Jugendliche. Nur Tony fehlt, weil er die Kamera bedient. Auf der linken Seite steht, abseits wie immer, das glatte Haar über den Augen, Mati, die Einzige, die nicht eingeladen war.
Die Mädels haben sie offenbar bemerkt, denn alle verstummen, und die plötzliche Stille hat etwas Angespanntes, Unnatürliches. Ingrid ist mit irgendetwas beschäftigt, die anderen jedoch stieren auf die Leinwand, kratzen über die Armlehnen der Stühle, beißen sich auf die Lippen, vermeiden es, einander anzusehen, und hoffen, dass bald das Licht ausgehen und dieses
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