Töchter des Schweigens
Gesicht für immer erlöschen möge, damit es aufhört, sie wie ein hungriger Geist zu verfolgen.
»Und jetzt«, ruft Ingrid triumphierend, »haltet euch gut fest, denn das ist das Kronjuwel. Damit rechnet ihr ganz bestimmt nicht.«
Sie hat einen weiteren Projektor aufgebaut, und kaum dass Rita das Geräusch des Ventilators vernimmt, verwandelt sie sich wieder in Marga und weiß, es muss ein Super-8-Projektor sein, und Ingrid wird ihnen jetzt einen Film zeigen, keine Abfolge statischer Bilder. In einer Sekunde wird sie sehen, wie sie sich bewegen und sprechen, sie wird sich selbst sehen, als sie noch eine andere war, und ihre Hände krallen sich in die Lehne des Sofas vor ihr, als mit einem Mal Candela an ihrer Seite ist und ihr einen mageren Arm um die Schultern legt, wofür sie dankbar ist, obwohl sie sich nicht rührt und Candela nicht einmal ansieht.
Sie fragt sich, was Ingrid sich dabei gedacht hat, sie so zu überfallen, und macht insgeheim Carmen dafür verantwortlich, weil die Ingrid überredet hat, noch zu bleiben und an diesem Fest teilzunehmen, das ja eigentlich nur für die Clique bestimmt war. Und gleichzeitig freut sie sich, dass der Schuss nach hinten losgegangen ist, weil Carmen ja gemeint hat, Ingrid dabeizuhaben würde helfen, die Vergangenheit auszuklammern, und nun ist ausgerechnet sie es, die die Vergangenheit über sie alle ergießt wie eine Sintflut aus Schlamm.
Denn der Film, das weiß sie jetzt, obwohl sie erst wenige Sekunden gesehen hat, ist der, den sie auf der Mallorca-Reise gedreht hatte und vor ihrer Abreise nach England vernichtet zu haben glaubte.
Die Frauen starren auf die Leinwand, gebannt wie Mäuse vor einer Kobra, die wissen, dass alles zu spät ist, dass es kein Entrinnen mehr gibt. Aus den Abgründen der Zeit scheint das Gelächter dieser Mädchen, die sie einmal waren, zu ihnen zu dringen. Sie sehen sich mit großspurigem Gehabe die Gangway hinaufgehen, zu ihren Eltern hinabwinken, die sie zum Hafen von Alicante gebracht haben, an riesigen Koffern zerren – fast alle in elegantem Weiß –, die noch keine Rollen haben. Beinah können sie das brackige Meerwasser riechen, den Teer, das Salz. Das Licht ist intensiv, obwohl es erst acht Uhr morgens ist und die Schatten noch lang sind, von links nach rechts. Es ist bereits heiß, und entgegen dem Rat ihrer Mütter entledigen sie sich ihrer Jacken und Strickjacken und zeigen den Bauch in Schlaghosen und kurzen ärmellosen Rollkragenpullis, wie es die Mode verlangt. Sie tragen große farbige Sonnenbrillen aus Kunststoff in Rosa, Blau oder Weiß. Sie sind strahlender Laune und so jung, dass es schmerzt.
Don Javier und Doña Marisa kommen ins Bild. Sie trägt ein gelbes Minikleid, hohe Plateauschuhe und eine schwarze Handtasche, die in der Sonne glänzt. Don Javier ist priesterlich in einen hellgrauen Anzug und sein Kollar gekleidet.
Nie war ihnen aufgefallen, dass er ein junger Mann war; doch jetzt wird ihnen klar, dass er noch keine fünfunddreißig gewesen sein konnte. Doña Marisa ist sogar noch jünger, und sie lacht mit ihnen, während sie an Deck Stellung beziehen und sich, auf die Reling gestützt, von ihren Familien verabschieden, die ihnen von unten eine gute Reise wünschen.
Das Schiff ist groß, weiß, herrlich, wie ein riesiger fliegender Teppich, der sie ins Land ihrer Träume bringen wird.
Dann kommen auch die Jungen der Parallelklasse in Begleitung von Doña Loles und Don Telmo, dem Direktor, der mit einem Mal gleichfalls ein junger und erstaunlich attraktiver Mann ist. Jetzt lächelt er Tere zu, und Tere wendet sich pikiert ab, als könne der Blick des Direktors ihr den Sommermorgen, den Abschied und die Zukunft verderben, die sich vor ihr ausbreitet. An der Schulter eines Jungen, dessen Namen ihr nicht mehr einfällt, hängt ein tragbarer Plattenspieler, und unwillkürlich meint Rita, Venus von Shocking Blue zu hören, obwohl sie weiß, dass dieses Lied 1974 schon länger nicht mehr aktuell war.
Die Bilder ziehen vorüber, umgeben von einem zähen, immer dichter werdenden Schweigen, aus dem alle Kommentare verschwunden sind, die zuvor die Diaschau begleitet hatten. Ingrid beginnt zu ahnen, dass etwas nicht stimmt.
Ana und Lena sitzen dicht zusammen, fast aneinandergeschmiegt kauern sie auf dem Sofa, die Augen starr auf die Leinwand gerichtet. Neben ihnen klammert sich Teresa steif und ernst an ihr Glas, als stellte dieses die Schnittstelle zwischen den beiden Welten dar. Carmen sitzt schräg auf der
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