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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elia Barceló
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sich um sie scharen, um sicherzustellen, dass sie wie eine Leiche aussieht, während jemand die Belichtung misst und sie selbst alles auf dem Bildschirm verfolgt und Fehler korrigiert. Doch noch ist es nicht so weit, noch ist Lena brennende Wirklichkeit. Wie Candela.
    Candela, die sie in ihrer Wohnung empfängt – »Siehst du? Diesmal habe ich dich zu mir nach Hause eingeladen« –, einer schicken Wohnung mit guten Möbeln, exquisiten Stoffen, modernen und afrikanischen Skulpturen zu gleichen Teilen, großen abstrakten Bildern und einer prachtvollen Aussicht auf den Hafen und das Schloss, mit brennenden Kerzen, ausschließlich weißen, und Jazzmusik.
    Ihr Handy piept zweimal. Rita blinzelt, und Candelas Wohnung versinkt wieder in der Erinnerung. Es ist eine SMS von Ingrid: Wish you were here. Granada is beautiful! The kids are all right. They miss you too. Love.
    Sie hat Ingrid nichts von Lenas Tod gesagt. Sie will ihr nicht die Ferien verderben, aber sie fehlt ihr so sehr, dass es fast schmerzt. Seit zwölf Jahren teilt sie alles mit ihr, und jetzt fühlt sie sich zum ersten Mal allein, verloren, ohne einen Menschen, dem sie vertrauen kann. Einen Augenblick lang ist sie versucht, Ingrid anzurufen und es ihr zu sagen, oder sie anzurufen, ohne ihr etwas davon zu sagen, sie einfach nur von der Schönheit Andalusiens schwärmen zu hören, doch sie fürchtet, die Stimme könnte ihr versagen, und so tippt sie rasch: Miss you, too, dear und drückt auf die Sendetaste. Nach kurzem Zögern ruft sie dann Teresa an und lädt sich bei ihr zum Essen ein.

1974
    Während die Schüler im Hof sind, entfalten Don Javier und Don Alonso Uribe – der Priester, der als Gastlehrer den letzten Einkehrtag der Abschlussklasse leitet – die anonymen Zettelchen mit den Ergebnissen der Aufgabe, die Don Alonso ihnen vor der Pause gestellt hat und die darin besteht, sich fünf Minuten Gedanken zu machen, ihr Gewissen zu prüfen und aufzuschreiben, was das Wichtigste in ihrem Leben ist, ihr höchstes Ziel, das zentrale Anliegen ihres ganzen Seins.
    Die beiden Geistlichen haben den Eindruck, dass es den Mädchen damit sehr viel ernster gewesen ist als den Jungen, die das Erstbeste hingekritzelt haben, was ihnen in den Kopf gekommen ist, und losgelaufen sind, um sich in der Kantine ein Brötchen zu kaufen.
    Don Javier sitzt an dem Podiumstisch in der großen Aula vor den leeren Stuhlreihen, überträgt die Antworten in ein Heft, wobei er hinter die, die wiederholt vorkommen, senkrechte Striche setzt:
    Liebe. Vier Striche. Eine dieser Antworten ist von Carmen, dessen ist er sich sicher, auch wenn ihm nicht ganz klar ist, was sie unter Liebe versteht. Gedacht hat sie wahrscheinlich »Jungs«, vermutet er schmunzelnd, sich aber nicht getraut, das auch hinzuschreiben. Deshalb hat sie LIEBE geschrieben, in Großbuchstaben, damit es nach Höherem klingt.
    Freiheit. Drei Striche. Bestimmt einer von Magdalena. Er kennt sie gut aus den Debatten im Unterricht. Die anderen können von jeder Beliebigen sein. In letzter Zeit ist »Freiheit« das Wort, das man am häufigsten hört, überall und in jedem Zusammenhang. Jedenfalls ist es eine Antwort mutiger Mädchen, denn immerhin wissen sie ja, dass ihre Zettelchen von zwei Priestern gelesen werden, von denen einer schon sehr alt ist.
    Unabhängigkeit. Eine einzige Nennung. Von wem die wohl stammt? Von Candela. Nur Candela ist klug und reif genug, um nicht wie die anderen einen so vagen Begriff wie »Freiheit« zu nehmen, sondern sich für »Unabhängigkeit« zu entscheiden, etwas wesentlich Konkreteres, Bescheideneres und Umsetzbareres.
    Gerechtigkeit. Auch nur eine Nennung, die von Ana sein muss, der Streitbaren mit dem hellen Geist und dem großen Herzen. Bisher die Einzige, die nach etwas strebt, das nicht sie allein betrifft.
    Familie. Sechs Striche. Man kann sagen, was man will, trotz der langen Diskussionen um Scheidung, voreheliche Beziehungen und wilde Ehe sehen, Gott sei Dank, viele in der Familie noch immer einen Wert, den es zu erhalten gilt. Welches seiner Mädchen – insgeheim empfindet Don Javier das Freundinnengrüppchen immer als »seine Mädchen«, obwohl ihm natürlich bewusst ist, dass er keine Unterschiede zwischen seinen Schülerinnen machen dürfte – mag wohl »Familie« gewählt haben? Margarita vermutlich. Und vielleicht auch Teresa, die zwar einen autoritären Vater und viele Geschwister hat, aber dennoch glücklich zu sein scheint im Schoß ihrer Familie.
    Sicherheit. Einmal.

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