Töchter des Schweigens
Auch das könnte von Tere sein, einem bodenständigen, ausgeglichenen, klar denkenden Mädchen, das weiß, was es will, und älter wirkt, als es ist.
Erfolg. Im Geist hat er sofort Soledad vor Augen, umgeben von einem Heiligenschein aus künstlichem Licht. Wer, wenn nicht sie? Nur wer alles andere bereits besitzt – Familie, Vermögen, Schönheit –, aber nicht intelligent, großmütig oder neugierig genug ist, sich gründlich mit der Welt auseinanderzusetzen, wie Ana, ist imstande, den Erfolg ganz obenan zu stellen.
Weisheit. Wer ist denn auf die Idee gekommen? Reme vielleicht, die alle für eine Streberin halten? Seiner Meinung nach ist Reme keine Streberin. Sie ist einfach eine der wenigen wirklich Wissensdurstigen, sitzt stundenlang in der Bibliothek, wenn ihr Vater sie nicht in der Bar braucht, und weiß, dass Bildung ein Privileg ist, insbesondere für sie, deren Eltern gerade mal so lange zur Schule gehen konnten, um unterschreiben und die Grundrechenarten zu lernen.
Don Javier fährt sich mit dem Zeigefinger unter dem Kollar hindurch, um es ein wenig zu lockern und den Juckreiz zu lindern. Er will endlich diese Liste beenden und für ein paar Minuten hinaus ins Freie. In dieser Aula ist es wie in einer Krypta, kein Tageslicht, keine frische Luft.
Mein Vaterland. Du lieber Himmel!, denkt er. Da haben all die Jahre in der Sección Femenina , die vielen Sommerlager und die zahllosen Unterrichtsstunden in Formación del Espíritu Nacional, zur Festigung des Nationalbewusstseins, ja tatsächlich einmal gefruchtet. Nicht dass er etwas gegen Patriotismus einzuwenden hätte, wenn allerdings eine Siebzehnjährige unter so vielen Möglichkeiten ausgerechnet das Vaterland zum Mittelpunkt ihres Lebens erwählt, macht ihn das stutzig. Wer konnte das sein? Julia? Es kommt, wie nicht anders zu erwarten, nur ein einziges Mal vor.
Er faltet den nächsten Zettel auf; es sind nur noch zwei übrig.
GOTT , in Großbuchstaben, und darunter »meine Religion«. Welche seiner Schülerinnen ist so fromm? Oder versucht diejenige nur, sich anzubiedern, ihm und Monsignore Uribe um den Bart zu gehen, weil sie meint, das wollten sie hören? Es könnte von Nieves sein, wenn die Antwort ehrlich ist. Oder von Mati, wenn es darum geht, sich lieb Kind zu machen. Das ist ein Vorurteil, für das er sich schuldig fühlt, aber er mag Mati nicht. Er mag ihren Blick nicht, immer schräg von der Seite, ihr hinterhältiges Grinsen, das hyänenhafte Gelächter, in das sie unweigerlich ausbricht, sobald jemand in ihrer Gegenwart gedemütigt wird oder sonst etwas erleidet.
Macht. In Druckschrift. Doppelt unterstrichen. Das ist Mati, die beschlossen hat, diesmal die Wahrheit zu sagen, weil die Zettel anonym sind! Ihm graust vor diesem Mädchen. Aber er hat ja keine Gewissheit, ob das wirklich von ihr stammt. Mati ist schlau, eine solche Antwort würde ihr nichts einbringen, und sie tut nur Dinge, von denen sie sich einen Gewinn verspricht. Er will sich von dieser fixen Idee nicht aus dem Konzept bringen lassen und überlegt, den Zettel vielleicht am nächsten Tag Marisa zu zeigen, denn sie kennt die Handschriften sämtlicher Schülerinnen, während er nur Noten für die mündliche Mitarbeit im Unterricht vergibt.
Er zählt die Antworten durch, um sicherzugehen, dass es zweiundzwanzig sind, und äugt zu Don Alonso hinüber, der nickend und murmelnd ebenfalls dabei ist, die neunzehn Zettel der Jungenklasse zusammenzuzählen.
»Offen gestanden, Pater Hildalgo«, sagt dieser dann, »scheint Ihr Unterricht keinen großen Eindruck hinterlassen zu haben. Bei diesen Knaben dreht sich alles nur ums Geldverdienen, um die Liebe, beziehungsweise um das, was sie unter Liebe verstehen, wobei Sie und ich wissen, was das mit siebzehn ist, und für den einen oder anderen um die Familie. Ah, und um die famose Freiheit natürlich, womit sie vermutlich eher Zügellosigkeit meinen, bloß wollen sie das so direkt nicht hinschreiben … «
Javier senkt den Blick und zuckt unmerklich mit den Schultern. Don Alonso fährt fort.
»Lassen Sie uns die Ergebnisse der Mädchen danebenlegen. Mal sehen, ob wir mit den Frauen von morgen mehr Glück haben. Was wird am häufigsten genannt?«
»An erster Stelle die Familie.« Don Alonsos Miene verzieht sich zu einem kleinen befriedigten Lächeln. »Doch an zweiter Stelle kommt ebenfalls die Liebe und an dritter die Freiheit.«
»Und die Religion und Gott und Spanien?« Don Alonsos Stimme steigt bei jedem der geheiligten
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