Töchter des Schweigens
einmal davon angefangen hat, muss sie noch etwas loswerden, das sie schon seit Monaten beschäftigt, einfach um seine Reaktion zu sehen.
»Ist dir schon mal aufgefallen, wie Telmo einige der Mädchen ansieht, Javi?«
Er bleibt vor dem Bungalow mit der Nummer stehen, die sie gesucht haben.
»Wie sieht er sie denn deiner Meinung nach an?«
»Wie ein Erwachsener, Ehemann, Lehrer und Schulleiter ein Mädchen nicht ansehen dürfte.« Marisa schaut Javier forschend in die Augen.
»Er ist kein Priester wie ich, Marisa«, erwidert er schließlich und wählt seine Worte mit Bedacht. »Die Mädchen sind zwar noch nicht volljährig, aber trotzdem schon Frauen. Und sie kleiden sich wie Frauen. Und sie sind bezaubernd, das kannst du nicht abstreiten. Ein Blick ist doch nichts Schlimmes.«
»Schon gut, lass mal. Vielleicht ist das nur eine Macke von mir. Aber du wirst zugeben, dass wir in getrennten Hotels mehr Ruhe haben werden. Wenn keine Jungs da sind, brauchen wir nicht einmal nachts die Zimmer zu bewachen.«
»Das mit den zwei Hotels hast du also mit Absicht gemacht?«
»Was denkst du eigentlich von mir? Loles wollte lieber in der Stadt wohnen, und ich hatte Lust auf diese Bungalows und den Meerblick. Es ist doch fantastisch, oder nicht? Und die in den Zimmern drüben bei der Klippe sehen von ihrer Terrasse aus das ganze Meer vor sich. Wir hätten für uns auch dort welche nehmen sollen.«
»Wir sind hier besser aufgehoben. So haben wir es näher zur Bar«, entgegnet er, bevor er in sein Zimmer geht. »Um halb neun. Und du wirst mir armem Priester einen ausgeben.«
Marisa steigt die Treppe zu ihrem Zimmer hoch und denkt, Priester hin oder her, wenn es um Frauen geht, besonders um junge und hübsche, sind alle Männer gleich, und keine Krähe hackt der anderen ein Auge aus, wie das Sprichwort schon sagt.
Im Dreibettzimmer sind die Atemzüge der Mädchen kaum zu hören. Sie schlafen zwar nicht, aber nachdem sie noch eine Weile gelacht und sich über das Abendessen und die jungen Ausländer im Speisesaal ausgelassen hatten, fanden sie es an der Zeit – fand Tere es an der Zeit –, das Licht zu löschen und ein paar Stunden zu schlafen, denn am nächsten Tag werden sie für ihren Ausflug zeitig aufstehen müssen.
Sole wälzt sich im Bett hin und her; das feuchte Haar stört sie, denn unter dem Gelächter und Gespött ihrer Zimmergenossinnen hat sie vor dem Schlafengehen noch schnell geduscht, und trotz der Plastikhaube, die sie von zu Hause mitgebracht hat, sind ihre Haare an den Spitzen und im Nacken nass geworden. Alle ziehen sie wegen ihrer Waschgewohnheiten auf. Dabei weiß sie selbst, dass es eher ein Tick als echte Notwendigkeit ist, aber sie kann sich nicht ins Bett legen, ohne sich vollkommen sauber zu fühlen und nach Seife zu riechen. Nur so kann sie sich von den Ereignissen des Tages lösen, als befreite sie sich beim Waschen nicht nur von toten Hautschuppen, sondern auch von dem anderen Schmutz, den mentalen Schuppen, die sie daran hindern, klar zu denken, sich die schon greifbar nahe Zukunft auszumalen, wenn sie erst einmal auf die Universität gehen und Mutter, Vater, die Großeltern und Onkel Ismael – vor allem Onkel Ismael – nicht mehr sehen wird. Auch wenn es in den letzten Jahren, seit er im Bistum Orihuela arbeitet, viel besser geworden ist, sodass sie manchmal zweifelt, ob all das, woran sie sich zu erinnern glaubt, nicht einfach nur ein böser Traum war, jene Zeit, in der Onkel Ismael Pfarrer in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Elda war, einmal pro Woche seine Schwester besuchte und bei dieser Gelegenheit ihr, seiner damals zehnjährigen Nichte, Deutschunterricht gab, weil er in Tübingen Theologie studiert hatte und »eine moderne junge Dame mit einem gewissen Bildungsgrad Fremdsprachen beherrschen muss«, wie der Großvater ihr eingeschärft hatte.
Sole presst sich bäuchlings gegen die Matratze und beißt ins Kissen, wie damals. Sie erinnert sich sehr gut an das kleine Musikzimmer, wo der Unterricht stattfand; einen Raum, der nie benutzt wurde, denn die Einzige in der Familie, die Klavier spielen konnte, war Tante Mercedes, und die war schon seit Jahren tot; die Heiligenbilder an den Wänden, das olivgrüne Satinsofa mit den gestreiften Kissen, das Kamintischchen, an dem sie vor dem Buch voll unverständlicher Worte saß; Onkel Ismaels Stimme, die bei diesen kehligen Lauten tiefer und feierlicher klang, fast wie seine Predigerstimme; Onkel Ismaels Hand, die immerzu ihren Kopf
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