Töchter des Schweigens
streichelte, während sie sich abmühte, die unbekannten Worte zu wiederholen; diese behaarte Hand, die wieder und wieder durch ihr blondes, seidiges Haar strich, sich in den Strähnen verhedderte, bis sie verzweifelt den Kopf schüttelte und er ihr mit einem Lächeln – wie verhasst ihr dieses Lächeln schließlich war – die Hand aufs Knie legte – seine riesige Hand, halb auf den Rock der Schuluniform, halb auf die nackte Haut – und anfing, ihren Schenkel zu streicheln, ohne dass seine Stimme gezittert hätte, ohne dass er aufgehört hätte, ihre Aussprache zu korrigieren: »Ich möchte, dass du es perfekt machst, Prinzessin.«
Zu jener Zeit wusch sich Sole nur samstags, wenn Lola, das Hausmädchen, die Wanne füllte und sie nach Lust und Laune darin spielen ließ, bis ihre Finger und Zehen verschrumpelt waren.
Eines Tages sagte ihre Mutter zu ihr, sie sei jetzt ein junges Mädchen und müsse etwas mehr auf ihr Äußeres achten, sich öfter waschen, ein wenig Kölnisch Wasser benutzen. Onkel Ismael sei den Umgang mit wichtigen Persönlichkeiten gewohnt, und wenn er ihnen schon den Gefallen tat, ihr Deutsch beizubringen, wo er doch so viel zu tun hatte, könnte sie sich vor der Stunde wenigstens ein bisschen zurechtmachen.
Anfangs dachte sie, wenn sie sich seltener wusch, hätte Onkel Ismael irgendwann genug und würde den Unterricht aufgeben, aber es nützte nichts, denn kaum betrat sie das Musikzimmer, besprühte der Onkel sie mit einem widerlichen Parfüm, von dem ihr schlecht wurde, was sie sich wiederum nicht anmerken lassen durfte.
»Die deutschen Frauen sind die fortschrittlichsten, Prinzessin, die elegantesten«, hatte er einmal gesagt und ihr einen feuerroten Lippenstift überreicht. »Wenn du den für die Deutschstunde aufträgst, wirst du dich wie eine richtige emanzipierte Frau fühlen. Bevor du nachher rausgehst, wischst du es wieder weg. Das bleibt unser Geheimnis.«
Das war der Beginn der Geheimnisse und ihrer immer häufigeren abendlichen Duschen, wenn Onkel Ismael sie gehen ließ, damit sie sich vor dem freitäglichen Abendessen im Familienkreis wieder herrichten konnte, während er sich die Hände wusch, sie von diesem Augenblick an keines Blickes mehr würdigte und das Zentrum der Tafel einnahm, die an beiden Enden von Vater und Großvater präsidiert wurde.
»Wenn du schon einen solchen Gefallen am Duschen gefunden hast«, sagte ihre Mutter, »wäre es dann nicht angebrachter, es vor der Deutschstunde zu tun, statt uns alle am Tisch warten zu lassen?« Und sie schüttelte den Kopf, ohne es ihr erklären zu wollen, ohne es erklären zu können, weil nicht einmal sie selbst recht wusste, was vorging. »Kannst du deinem Onkel nicht einen Gefallen tun und vorher duschen?« Es war eine gängige Formulierung, die jedermann für die unterschiedlichsten Dinge verwendete, aber dieses »einen Gefallen tun« war seither in ihr Gedächtnis eingebrannt, denn ihre Mutter konnte ja nicht wissen … und dennoch … manchmal war da etwas in ihrer Stimme und in der Art, wie sie ihrem Blick auswich, wenn die Rede vom Onkel war, dass ihr der Gedanke kam, sie könnte womöglich … auf keinen Fall, niemals; hätte ihre Mutter gewusst, was sich in dem dunklen Raum unter den entrückten Blicken der Heiligen abspielte, wäre sie vor Scham gestorben, sie hätte sich in den Brunnen ihres Landhauses gestürzt, der so tief war, dass es mehrere Sekunden dauerte, bis man den Aufprall des Schöpfeimers auf der Wasseroberfläche hörte.
Und eines Tages war Onkel Ismael erschienen, um ihnen mit stolzgeschwellter Brust mitzuteilen, »das Bistum benötige seine Dienste«, weshalb er den Deutschunterricht für die Kleine bedauerlicherweise nur noch bei gelegentlichen Besuchen fortsetzen könne. Zu dieser Zeit war sie schon dreizehn, ihre Brüste hatten sich entwickelt, und ihre Regelblutung hatte eingesetzt; sie war inzwischen offiziell »eine Frau«.
Seitdem hat Onkel Ismael sie nicht mehr angerührt. Die höchst sporadischen Deutschstunden, die sie noch immer beinahe so sehr hasst wie zuvor, finden jetzt im Winter im Esszimmer statt oder, wenn man draußen sein kann, in der Gartenlaube. Jeder Vorübergehende kann sie sehen, wie sie dort einander gegenübersitzen; sie liest laut vor oder übersetzt das Gelesene; er nippt an seiner heißen Schokolade oder Limonade, je nach Jahreszeit, nickt ihr zu oder verbessert ihre Fehler. Als ob nie etwas geschehen wäre, als ob diese Gorillahände nie über ihren Kinderkörper
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