Töchter des Schweigens
besten Freundinnen, dass die Schule ausgestanden und abgehakt ist, und über die Aussicht, von zu Hause wegzukommen und fünf wunderbare Jahre ganz nach ihrer eigenen Fasson zu leben. Ihr ist unbegreiflich, wieso den anderen das Herz nicht genauso hüpft wie ihr.
Ihr angeborener Optimismus lässt sie annehmen, dass zwischen ihren Eltern, die ja nun Gelegenheit haben werden, eine Zeit lang für sich zu sein – ihre jüngere Schwester ist im Ferienlager –, wie durch Zauberei wieder alles im Lot sein würde, bis sie nach Hause kommt. Sie möchte glauben, die beiden könnten eng umschlungen am Hafen stehen, um sie abzuholen, so, wie sie sie in Erinnerung hat, als sie und ihre Schwester noch klein waren, bevor José Luis, dieser Idiot, in ihr Leben trat und es zerstörte; bevor ihre Mutter sich in eine Fremde verwandelte, die es immer eilig hat und nie zu Hause ist, wenn sie aus der Schule kommen; bevor die Streitereien anfingen, das Geschrei und die Drohungen ihres Vaters, die ihr Angst machen, obwohl es dafür keinen Grund gibt, weil ihr Vater gar nicht imstande wäre, solche Dinge zu tun. Die Untreue der Ehefrau ist ein Verbrechen, das man anzeigen kann, und man braucht dazu nur zwei Zeugen: zwei geschwätzige Nachbarinnen, zwei Arbeitskollegen, zwei Personen, die gesehen haben, wie ihre Mutter José Luis geküsst hat oder abends in seine Wohnung gegangen ist.
Aber sie will weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denken. »Du lebst jetzt«, ermahnt sie sich. Jetzt. Sie ist fast erwachsen, sie hat eigene Pläne; sie ist nicht verantwortlich für das, was ihre Eltern aus ihrem Leben gemacht haben. Und während sie sich das einredet, schlummert sie langsam ein.
Juni 2007
Carmen lag im Bett, obwohl nicht einmal Siesta-Zeit war. Sie war nicht im Sportstudio gewesen und hatte etwas getan, was sie nie und nimmer tun wollte: Sie war mit einer Flasche Gin ins Schlafzimmer gegangen, und die wartete jetzt, schon halb leer, auf dem Nachttisch.
Seit Lenas Tod fand sie nicht mehr in ihr normales Leben zurück, sie war nicht im Laden gewesen, hatte mit niemandem gesprochen, nicht einmal mit ihren Töchtern und schon gar nicht mit den Freundinnen. Sie wusste selbst nicht, warum es sie so mitnahm, denn sie war mit Lena nie sehr eng befreundet gewesen. Trotzdem hatte sie, jetzt da Lena weg war, das Gefühl, als hätte man ein gewaltiges Stück aus ihrem Leben gerissen, und ferne Bilder kamen ihr in den Sinn, Sätze, die sie im Lauf der Zeit zueinander gesagt hatten, Erinnerungen ans Gymnasium, an Platten voller Kuchen, den sie mit fünfzehn gemeinsam verschlungen hatten, als sich noch keine von beiden um die Figur sorgte.
Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass jemand Lena ermordet haben sollte, ausgerechnet Lena, die Sanfteste, Passivste, Geduldigste unter ihnen, die Einzige, über die kein Mensch jemals etwas Schlechtes sagte. Nur ein Irrer konnte das getan haben, eine dieser seltsamen Gestalten, die sich auf der Suche nach Mitgefühl an Lena herangemacht und immer eine besondere Anziehungskraft auf sie ausgeübt hatten. Auf jeden Fall ein Mann. Ihrer Erfahrung nach zerstören nur Männer, was sie nicht verstehen, weil damit das Problem aus der Welt geschafft ist.
Ihr Mund war trocken, und in ihren Schläfen hämmerte es mit dumpfem, stetem Schlag, was nicht am Gin liegen konnte; so viel hatte sie nun auch wieder nicht getrunken, nicht mal eine halbe Flasche, und sie war das Trinken gewohnt.
Sie stand auf, schwankte, stieß gegen die Möbel und holte das Fotoalbum aus dem Wohnzimmer. Das Haus schaukelte sanft, wie ein Boot auf ruhiger See.
Eines nach dem anderen riss sie die Fotos von den Seiten, ohne sie anzusehen. Sie hatte von Erinnerungen die Nase voll. Warum waren die Leute nur so versessen darauf, Bilder aus einer Zeit zu bewahren, die niemals wiederkehren würde? Was hatte sie mit diesen Säuglingen zu tun, die ihre Töchter einmal waren? Wozu sollte sie diese Fotos aus ihrer Jugend aufheben, von Ausflügen, an die sie sich längst nicht mehr erinnerte, von Reisen, auf denen sie nicht glücklich war, von Männern, die ihr Leben gestreift hatten, ohne eine Spur zu hinterlassen?
Am liebsten wäre sie aus dem Haus gegangen und hätte die Tür hinter sich geschlossen, für immer, um nie mehr wiederzukommen. Alles niederbrennen. Vergessen. Von vorn anfangen.
Sie hob den Kopf, und der große goldgerahmte Spiegel zeigte ihr das Bild einer Frau mit wächserner Haut und ungepflegtem Haar in abgetragenen
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