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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elia Barceló
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so vor: eine Folge von sonnigen Tagen ohne feste Zeiten, ohne Verpflichtungen, ohne Pläne, ohne zweckdienliche Projekte oder Ziele, die es zu erreichen gilt. Sie sieht sich in einem dieser Schwärme von Zugvögeln durch die Welt reisen, in den Tag hineinleben, den Sinn des Daseins in der kosmischen Harmonie suchen, in der freien Liebe und im Ausprobieren von allem, was ihr in den siebzehn Jahren ihres Leben versagt geblieben ist, weil es entweder gegen das Gesetz oder Sünde oder unvernünftig ist. Sie hat das Gefühl, aus einer finsteren Höhle zu kommen, bereit, sich vom Licht der offenen Welt blenden zu lassen, und spürt, dass alles da ist und sie nur die Hand auszustrecken braucht. Das Leben ist ein Fest, zu dem sie eingeladen ist. Sie muss sich nur ein Herz fassen und eintreten. Und eben darin besteht das Problem. Sie weiß, welchen Schmerz sie ihren Eltern damit zufügen würde, die sich etwas Besseres für ihre Tochter erhoffen, und fühlt sich nicht imstande, sie so schwer zu enttäuschen. Also wird sie sich mit einem Sommerkurs in England begnügen müssen, einem Monat der Freiheit, um sich auszuleben, und anschließend weiterlernen, auf die Universität gehen, einen Abschluss machen, der ihr erlaubt, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und einen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft einzunehmen, einen netten jungen Mann kennenlernen und heiraten, vorzugsweise ganz in Weiß und in Anwesenheit beider Familien, und nach ein paar Tagen Hochzeitsreise ein geregeltes Leben beginnen, mit einer komplett eingerichteten Wohnung und zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Sie weiß, dass ihre Träume von der Freiheit, vom Kommunenleben, von der freien Liebe als einer dieser sogenannten drifters , wie sie in den Zeitschriften heißen, eben das bleiben werden: Träume. Aber jetzt ist jetzt, und sie sind auf Mallorca, und die Zukunft breitet sich strahlend hell vor ihr aus. Irgendwo gibt es einen Jungen, der auf sie wartet, den Mann ihres Lebens, und während sie versucht, sich diesen Jungen vorzustellen, der irgendwo auf sie wartet, gleitet sie dahin wie auf einer riesigen Rutschbahn und schlummert lächelnd ein.
    Auch Carmen im Nachbarbett schläft schon fast. Sie hat eine Weile gewartet, weil sie noch masturbieren wollte und weiß, dass Magda in Sekundenschnelle im Tiefschlaf liegt. Doch diesmal hat ihre Hoffnung sie getrogen. Ihre Freundin hat sich im Bett hin und her gewälzt, gelegentlich einen Seufzer ausgestoßen, und als sie endlich Ruhe gibt, ist auch Carmens Lust verflogen, und sie überlässt sich der Erschöpfung nach der Reise und den Aufregungen des Tages.
    Sie hat es den anderen gegenüber nie erwähnt, vermutet aber, dass sie als Einzige das Gefühl entdeckt hat, das man auslösen kann, indem man sich selbst zwischen den Beinen streichelt. Sie würde gern mit einer ihrer Freundinnen darüber sprechen, aber eine innere Stimme sagt ihr, damit würde sie praktisch zugeben, anders zu sein als die anderen, liederlich zu sein. Erst vor Kurzem haben sie sich in Arturos Bar über einige Mädchen unterhalten, die in einem von Nonnen geführten Internat Abitur gemacht haben, und keine hat verstanden, warum man die Schülerinnen dort zwingt, nachts beide Hände auf die Decke zu legen, und sie bestraft, wenn die Nachtwache bemerkt, dass sie sie daruntergesteckt haben. Keine der anderen hat sich diese absurde Maßnahme erklären können, nur sie allein schien zu wissen, was die Nonnen damit verhindern wollen.
    Ein Teil ihres Geistes weiß, dass es nichts Schlimmes sein kann, weil es niemandem wehtut und man hinterher ruhig und entspannt ist, aber ein anderer Teil besteht hartnäckig darauf, dass nur ein verdorbenes, abartiges Weibsstück in so etwas Befriedigung findet. Frauen sind von Natur aus gehorsam, demütig und keusch, das hat man ihr von jeher gepredigt, in der Schule, in der Religionsstunde, im nationalpolitischen Unterricht. Und alle, die nicht so sind, sind leichte Mädchen, Flittchen, Abschaum.
    Carmen ist weder gehorsam noch demütig, doch bis vor Kurzem zumindest keusch gewesen, und sie ist noch Jungfrau, obwohl die Jungfräulichkeit allmählich auf ihr lastet wie eine nasse Wolldecke, weil sie Männer mag, auch wenn viele von ihnen echte Schweine sind. Sie mag es, wenn Männer sie anschauen, mit ihr scherzen und dabei so glänzende Augen bekommen, dass man ihnen deutlich ansieht, was sie denken, was sie am liebsten tun würden, wenn sie dürften. Sie trägt gern Miniröcke und steigt die

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