Töchter des Schweigens
Wahrheit war. Sie verspürte einfach einen übermächtigen Drang, ihre Reaktionen zu verstehen, und war seit über zwanzig Jahren bestrebt, sich stets rational zu verhalten, ihre Entscheidungen mehr mit dem Kopf zu fällen als mit dem Herzen oder dem Bauch. Doch gelang ihr das allenfalls, wenn es wirklich etwas zu entscheiden gab, und auch dann nicht immer. Ihre spontanen Reaktionen und Gefühle zu kontrollieren stand oft nicht in ihrer Macht.
Deshalb hatte sie Candela gesagt, sie sähe sich außerstande, einer überschwänglichen Laune zuliebe ihr Leben zu ändern. Deshalb war sie so erleichtert gewesen, Ingrid weit weg zu wissen, in einer anderen Welt, in der sie besser aufgehoben war, weit weg von diesem Ort, von den Mädels, von den schmerzlichen Erinnerungen, die sie nur mit der Clique und mit niemandem sonst teilte. In beiden Fällen war es die richtige Entscheidung gewesen, die vernünftigste, die einzige, die sie vor sich selbst vertreten konnte, vor diesem denkenden Menschen, der zu sein sie mit Stolz erfüllte.
Obwohl das mit Candela … Warum war sie so rigoros gewesen, so grausam? Wollte sie vor sich selbst leugnen, dass sie sie geliebt hatte, dass sie sie immer noch liebte, dass sie sie begehrte, wie sie nie einen Menschen begehrt hatte? Candela hatte ihr vorgehalten, ihre Homosexualität nicht akzeptieren zu wollen, aber sie, Rita Montero, fühlte sich nicht homosexuell, darum konnte sie es nicht akzeptieren. Sie liebte, oder begehrte zumindest, zufällig einen Menschen ihres eigenen Geschlechts. Und das war nicht das Gleiche wie homosexuell zu sein. Sie hatte nie ernsthafte Geschichten mit anderen Frauen gehabt, und von allen Männern, mit denen sie sich eingelassen hatte, war sie bald enttäuscht worden. Ihr Sexualtrieb war seit Jahren eingeschlafen oder sogar tot, wie sie manchmal dachte. Und jetzt kam Candela, und sie musste erkennen, dass er sich lediglich im Hintergrund gehalten hatte, während er auf den passenden Geruch, den Blick, die Haut wartete, nach der die ihre unbewusst suchte. Aber was sollte sie machen? Zwei fünfzigjährige Frauen mit einem geregelten Leben konnten doch nicht einfach von vorn anfangen wie zwei Mädchen ohne Vergangenheit, die die ganze Zukunft noch vor sich haben. Sie brauchte Stabilität, um weiterarbeiten zu können; sie musste Ingrid um sich haben, die Kinder, ihr Team, ihren kleinen Freundeskreis. Ihr Leben war in London und spielte sich auf Englisch ab; sie war hier zu einer Touristin geworden, die zwischen sechs und sieben zu Abend aß, nie jemanden besuchte, ohne vorher anzurufen, keine persönlichen Fragen stellte und nicht mehr gewohnt war, welche beantworten zu müssen. Für sie war Candela ein Wesen von einem anderen Stern, und vielleicht machte sie das in ihren Augen so attraktiv. Oder die gemeinsame Vergangenheit. Die Geheimnisse. Die Schuld.
Sie fragte sich, wie schon tausendmal zuvor, ob sich die Jungen ihrer Parallelklasse in der gleichen Situation ähnlich gefühlt hätten wie sie und ihre Freundinnen, ob sie sich genauso verhalten hätten, ob ihre Zukunft davon auf dieselbe Weise geprägt worden wäre. Oder hing das alles damit zusammen, dass sie – in Francos Spanien und in der katholischen Moral erzogene Frauen – sich nie ganz von der großen allgegenwärtigen Schuld hatten befreien können: der Schuld, weiblich und somit durch und durch böse zu sein. Der Schuld, die Sünde in die Welt gebracht zu haben.
Ihr Handy gab zwei kurze Pieptöne von sich, mit denen es sie auf eine SMS oder einen Anruf in Abwesenheit hinwies, und automatisch wählte sie die Nummer ihrer Mailbox.
»Rita, hier ist Carmen.« Die Stimme klang undeutlich vom Alkohol, flehend. »Mir fällt die Decke auf den Kopf. Ich muss mit jemandem reden, und da bist du mir eingefallen, ist ja nichts Neues. Im Ernst, Rita …« – es folgte ein Augenblick des Zögerns – »es geht mir schlecht. Bitte. Ruf mich an, sobald du das hier hörst.« Lange Pause. »Bitte, Marga, bitte.«
»Aber Teresita, was ist denn los?« Jaime hatte seine Frau zusammengekauert auf dem Sofa vorgefunden, ein Kissen in den Armen und tränenüberströmt.
Er setzte sich neben sie, legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. Sie barg den Kopf an seiner Schulter und begann heftig zu weinen, während er ihr Haar streichelte.
»Sie fehlt mir so!«, stieß sie schluchzend hervor. »Es tut mir so weh! Arme Lena! Ausgerechnet jetzt, wo sie sich doch gerade ein bisschen gefangen hatte …«
Jaime
Weitere Kostenlose Bücher