Töchter des Schweigens
Schwangerschaften verhütet, selbstständige Entscheidungen in so fundamentalen Angelegenheiten wie Sex und Liebe trifft. Wie kann man nur so blöd sein und heiraten, ohne die geringste Erfahrung zu haben? Nachdem sie jahrelang zur Schule gegangen sind und sich immer wieder anhören mussten, wie wichtig Bildung ist, wenn man ein vollwertiger und eigenständiger Mensch sein will, wie kann man ihnen dann noch weismachen wollen, die Jungfräulichkeit sei der kostbarste Besitz einer Frau? Schließlich bedeutet Jungfräulichkeit doch nichts weiter als Ahnungslosigkeit und Unerfahrenheit.
Aus diesem Grund hat sie beschlossen, dass es damit ein Ende haben muss, und zwar sofort, in dieser Woche auf Mallorca. Dann wird man weitersehen.
Sie ist sicher, dass die anderen sie trotz ihres Einserdurchschnitts für ein bisschen doof halten; viel Beachtung haben sie ihr nie geschenkt. Zwar gehen sie ihr nicht aus dem Weg wie denen aus Novelda, aber sie nehmen sie auch nicht in ihre Clique auf. Sie ist nichts Besonderes; ihr Vater betreibt eine Bar, ihre Mutter ist Friseuse und steht in der Küche, sobald sie aus dem Salon kommt, also muss Reme zwangsläufig doof sein, ein Mädchen aus der Unterschicht, das in beengten Verhältnissen lebt, in einer Wohnung ohne Bücher, ohne Zeitschriften, ohne Schallplatten. Bei ihr zu Hause haben sie kein Geld für Französischstunden oder Tennis oder sonst irgendetwas, also muss sie in die Stadtbücherei gehen und sich anstrengen, um gute Noten zu haben, denn nur, wenn sie es schafft, das Stipendium zu bekommen, wird sie studieren können. Alle halten sie für eine Streberin und meinen, ihre Noten seien nicht ihrer Intelligenz, sondern ihrer Büffelei zu verdanken, aber das schert sie nicht. Sie hat längst eingesehen, dass sie von den Leuten, die sie seit Jahren umgeben, nicht viel erwarten kann, und somit setzt sie alle Hoffnung auf die Zukunft, auf die Universität, auf den Zeitpunkt, zu dem sie den Ort verlassen wird, wo jeder weiß, aus was für einer Familie sie stammt. Doch bevor sie frei sein kann, muss sie sich selbst beweisen, dass sie dazu auch fähig ist, dass sie imstande ist, eine weitreichende Entscheidung zu fällen, ohne diese mit irgendjemandem besprochen zu haben. Und genau das hat sie vor.
Die Einzige, die noch nicht im Bett liegt, ist Mati. Um zwei Uhr morgens hat sie ihren Kontrollgang beendet, wie sie es schmunzelnd nennt, sitzt verborgen im Schatten auf einem Plastikstuhl in dem kleinen Garten vor ihrem Zimmer und raucht eine filterlose Celtas . Stünde jemand an dem Geländer über der Steilküste, die dort senkrecht zu der felsigen Bucht abfällt, sähe er höchstens das Aufblinken der Glut, wenn sie an der Zigarette zieht.
Mati raucht stillvergnügt, während ihre Linke das Heft streichelt, ihren wertvollsten Besitz. Nicht dass sie es als Gedächtnisstütze gebraucht hätte, vielmehr hält sie mit diesem Heft eine Waffe in der Hand, von der alle, die es sehen und wiedererkennen, in Angst und Schrecken versetzt werden. Es ist wie das Brevier eines mittelalterlichen Alchemisten: Nicht alle Rezepturen darin sind gefährlich, manche sind wirkungslos oder nicht einmal erprobt, dennoch weiß jeder, dass es voller Formeln ist, die wirken könnten und in diesem Fall großen Schaden anrichten würden.
Sie liebt dieses furchtsame Flackern in den Augen ihrer Mitschülerinnen. Es gibt ihr ein Gefühl der Überlegenheit, das sie gegen nichts auf der Welt eintauschen würde.
Schon allein der Gedanke, dass sie Dinge in dieses Heft schreibt, mit denen sie andere bloßstellen könnte, lässt sie alle mehr oder weniger vor ihr kuschen. Wie viele Prüfungen sie bestanden hat, weil sie bei der einen oder anderen abschreiben durfte! Wie oft sie den Unterricht geschwänzt hat, in der Gewissheit, dass jemand für sie lügen und behaupten würde, sie fühle sich nicht wohl oder müsse zum Arzt oder zu einer Beerdigung! Wie viele kleine Geschenke sie angehäuft hat, nur indem sie beiläufig bemerkte, dieser Kugelschreiber oder jener Schal gefalle ihr! Aber jetzt, da sie das Abitur gepackt hat, erscheint ihr das alles nichtig im Vergleich zu dem, was vor ihr liegt. Sie will nach Valencia. Sie muss nach Valencia. Sie kann sich nicht vorstellen, in ihrem Dorf zu bleiben oder in Alicante im Fotostudio ihres Onkels zu arbeiten oder sich eine Stelle als Bürokraft zu suchen, womit sie niemals reich würde, während alle anderen studieren und zu bedeutenden Frauen mit einem Beruf, einem Diplom und
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