Töchter des Schweigens
Sonnenbrille aufgesetzt hat und wie in Trance zum Fenster hinausblickt, ein verklärtes Lächeln um die Lippen. Marga spielt an der Kamera herum, entschlossen, ihren letzten Geheimnissen auf die Spur zu kommen und einen schönen Film von der Reise zu machen, und ist froh, dass Reme keine Lust zum Schwatzen hat und sie in Frieden lässt. Doch nach einer Weile, als der Bus bereits Richtung Norden fährt und die meisten Insassen eingenickt sind, wendet sich Reme ihr zu.
»Weißt du eigentlich, dass du die Einzige bist, die mich noch nicht gefragt hat, was mit mir los ist?«
Marga, die ahnt, dass sie gleich eines dieser vertraulichen Geständnisse zu hören bekommt, die anscheinend jeder auf Lager hat, sieht sie schweigend an. Wenn sie ihr etwas erzählen will, wird sie es ihr ohnehin erzählen, doch will sie sie nicht auch noch dazu ermuntern.
»Dir kann ich es ja sagen, Marga, du wirst es für dich behalten, das weiß ich. Außerdem brauche ich deine Hilfe.«
»Meine Hilfe? Wozu?« In diesem Fall lässt sich die Rückfrage nicht umgehen.
»Du weißt doch, dass ich gestern in der Diskothek den ganzen Abend mit einem Schweden getanzt habe.«
»Nein, darauf habe ich, ehrlich gesagt, gar nicht geachtet.« Auch sie und die anderen hatten mit sämtlichen Schweden und Finnen des Hotels getanzt, sich im Englischen geübt und sich schiefgelacht, und gegen zwei Uhr morgens hatten Candela und sie beschlossen, aufs Zimmer zu gehen, ihre Terrasse noch ein wenig zu genießen und ihren Gin-Tonic dort auszutrinken.
»Er sieht unglaublich gut aus, Marga. Er ist siebenundzwanzig, Ingenieur und spielt E-Gitarre in einer Band. Ich weiß schon, er ist ziemlich alt, aber dafür ein gestandener Mann, verstehst du? Nicht so ein Bübchen wie all die anderen, die ich bis jetzt kennengelernt habe.« Sie senkt die Stimme und nähert sich Margas Ohr. »Ich bin in ihn verliebt, Marga, wie wahnsinnig.«
Reme beißt sich auf die Lippen, weil sie danach lechzt, jemandem zu erzählen, was sich in der Nacht zuvor abgespielt hat. Am liebsten hätte sie laut herausgeschrien, dass sie keine Jungfrau mehr ist, dass sie endlich weiß, was es heißt, mit einem Mann zu schlafen, und dass sie den ganzen Schmus mit der Verliebtheit nur deshalb von sich gibt, weil man das halt so sagt, damit die anderen einen verstehen. Außerdem weiß sie ja gar nicht, ob sie nicht vielleicht wirklich verliebt ist; sie kann es nicht wissen, weil sie noch nie verliebt war. Vielleicht ist das ja Liebe, was sie jetzt fühlt, diese Enge in der Brust, dieses warme Kribbeln zwischen den Beinen, dieses Feuchtwerden beim Gedanken an ihn und an das, was sie die ganze Nacht getrieben haben, begünstigt durch den Umstand, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Zimmer für sich hat. Aber sie kann sich nicht entschließen; so gut kennt sie Marga nun auch wieder nicht, um sicher zu sein, dass sie über ein Geheimnis von solcher Tragweite Stillschweigen bewahren würde, sie weiß ja nicht einmal, ob Marga es gutheißen oder sie, wie die meisten anderen, für eine Nutte halten würde.
Marga wartet ab, denn ihr ist klar, dass Reme noch nicht alles gesagt hat, was sie sagen will, sie selbst also noch nichts zu sagen braucht.
»Doña Marisa hat angekündigt, dass wir heute Abend in eine Diskothek in Palma gehen, aber ich will nicht mit, verstehst du? Ich muss im Hotel bleiben, weil ich nach dem Abendessen mit ihm in der Disko verabredet bin.«
Reme sieht sie flehend an.
»Dann bleibst du eben. Es wird dich sicherlich niemand zwingen mitzukommen. Wenn du sagst, dass du keine Lust hast, nach Palma zu fahren … Wir sind doch alt genug, oder?«
»Wenn ich sage, dass ich hierbleibe, werden mich alle fragen, was los ist, oder eine Freiwillige suchen, die bei mir bleibt, damit ich nicht allein bin, verstehst du? Ich brauche aber niemanden, der bei mir bleibt, weil ich mit ihm allein sein will. Wir haben uns so viel zu erzählen …, und da mein Englisch ja nicht so gut ist, dauert es immer irrsinnig lange, bis ich ihm erklärt habe, was ich meine. Sag mal, wie könnte ich das deichseln?«
Marga spürt, wie ihr die Wut bis in die Augen steigt, und muss sie schließen, damit Reme es nicht bemerkt. Immer soll sie für die anderen Ausreden erfinden, nach Lösungen suchen.
»Ich weiß nicht. Fang an zu jammern, du hättest furchtbare Kopfschmerzen, damit die anderen glauben, du hättest dich den ganzen Tag zusammengerissen, um ihnen den Ausflug nicht zu vermiesen. Sobald wir im Hotel
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