Töchter des Schweigens
dein Kind. Ich verliere auch, aber das ist mir egal, ich schwör’s dir.«
»Tere«, die Stimme des Mannes ist fast ein Wimmern.
»Ein einziges Wort, Telmo. Ein einziges, und ich packe aus. Es liegt ganz bei dir.«
2007
Die Sonne hat sich soeben hinter dem Horizont verborgen und Lenas Arbeitszimmer in eine blaue Höhle verwandelt. Teresa hat aufgehört zu sprechen. Rita hat die Arme auf die Knie und den Kopf in die Hände gestützt. Sie schweigen bereits seit einer Weile, während sich die Nacht herabsenkt.
Teresa steht auf, zögert einen Augenblick, geht dann zu ihrer Freundin, die den Kopf hebt und sie ansieht, und kauert sich vor sie hin.
»Jetzt weißt du alles, Marga. Wieder einmal bist du die Hüterin der Geheimnisse.«
Rita lacht kurz auf, es klingt freudlos, wie ein Bellen.
»Ihr wolltet mich immer glauben machen, dass ich alles weiß! Und dabei wusste ich nichts … fast nichts.«
»Ich konnte es dir damals nicht sagen, Marga, verstehst du? Es war zu viel.«
»Ja. Es war zu viel. Weißt du, was aus ihm geworden ist?«
»Aus Telmo? Keine Ahnung. Ich nehme an, er lebt weiterhin mit seiner Frau zusammen und hat seither dreißig Schülergenerationen mit seinen obszönen Texten und seinem Euripides und seinen Mänaden traktiert.«
»Was war mit uns los, Tere? Wie konnten wir das alles tun?«
Teresa zuckt mit den Schultern.
»Solche Dinge passieren eben. Das Labyrinth, von dem Candela sprach. Aber jetzt ist wirklich Schluss damit.«
»Du hast nicht vor, es den anderen zu sagen, oder? Wir tun weiter so, als hätte Candela Mati getötet.«
»Was für eine Rolle spielt das noch, Rita? Diesen armen Schweden haben wir alle gemeinsam umgebracht, aber geschehen ist geschehen. Hast du nicht gesehen, wie glücklich Ana, Carmen und Sole sind? Lena und Candela können wir nicht mehr retten, aber uns können wir retten. Wir beide teilen jetzt dieses Geheimnis, und wenn du ganz ehrlich bist, wirst du einsehen, dass es im Grunde gleichgültig ist, wer Mati getötet hat. Sie hatte es verdient. Jede von uns hätte es getan. Kennst du Chicago , das Musical?«
Rita nickt.
»In einem Song heißt es: ›Es war Mord, aber es war kein Verbrechen.‹«
»It was a murder, but not a crime« , flüstert Rita. »Ja. Vielleicht hast du recht. Wir müssen vergessen. Aber die andere Sache, Tere, die mit diesem armen Jungen … Davon träume ich noch heute. Du nicht?«
Teresa setzt sich auf den Boden neben Rita und lehnt den Rücken gegen die Wand. Sie sitzen Seite an Seite, sehen sich aber nicht an.
»Ich auch, Marga. Wir haben etwas Grauenvolles, Unverzeihliches getan. Aber es ist passiert. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Wir haben es hunderttausend Mal bereut, aber wir können es nicht ungeschehen machen. Ich habe versucht, mir mein Leben so einzurichten, dass ich vielen Menschen helfen kann, wie Ana vermutlich auch. Wie du, auf andere Weise. Ich weiß, dass ich damit nicht dafür bezahlt habe, aber ich weiß, dass ich auch nicht dafür bezahlen würde, wenn ich im Gefängnis säße. Wir sind keine Mörderinnen, wir sind nicht gemeingefährlich. Wir haben einen Fehler gemacht, einen sehr schweren Fehler, der nicht wiedergutzumachen ist. Und weil wir im Grunde anständige Menschen sind, hat dieses Verbrechen seine Strafe sozusagen mit sich gebracht: es nicht vergessen zu können und jahrzehntelang unter Schuldgefühlen zu leiden. Und zwar bis zu unserem Lebensende …«
»Warum hast du es mir gesagt, Tere? Hast du keine Angst, ich könnte dich anzeigen?«
Teresa fährt sich durchs Haar und sieht ihre Freundin an.
»Wärst du bereit, alles zu erzählen? Wozu? Wozu, Marga? Wem würdest du damit helfen? Von den sieben der Clique vom 28sten sind nur noch fünf übrig, und die anderen drei scheinen gerade aufzublühen, wie du auch bald.«
»Und du auch«, sagt Rita leise und streichelt Teresas Haar.
Sie umarmen sich, getröstet von der Gegenwart und der Kraft der anderen, und erleichtert, weil sie die Last, die sie immer allein getragen haben, nun teilen. Dann steht Teresa auf und gewinnt ihre Festigkeit, ihren Pragmatismus zurück. Sie betrachtet kurz das Zimmer und alles, was noch zu tun ist, schaut auf die Uhr und fasst einen Entschluss.
»Gehen wir etwas essen. Soll Jeremy, der Blödmann, doch zusehen, wie er klarkommt. Ich hab’s jetzt satt.«
»Du weißt nicht zufällig, was aus seinem Vater geworden ist?«
»Nein, Marga. Alles weiß ich auch nicht.«
»Macht nichts. Ist jetzt auch
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