Töchter des Schweigens
egal.«
Sie fassen einander um die Taille, gehen durch den Flur, ohne Licht zu machen, Teresa schließt Lenas Tür ab, dreht den Schlüssel zweimal im Schloss, dann gehen sie langsam die Treppe hinunter, schweigend, im Dunkeln.
Epilog
Manchmal erfährt man Dinge, die man gar nicht wissen will. Und manche Dinge, nach denen man sein Leben lang sucht, findet man niemals heraus.
Wenn Rita und Teresa eines der Manuskripte gelesen hätten, die Jeremy soeben in den Papiercontainer geworfen hat, wäre ihnen womöglich der Name des Autors und seine Kurzbiografie aufgefallen:
César Pacheco (Elda, 1956) hat als Theaterschauspieler, Fotomodell, Tänzer und in zehn oder zwölf weiteren weniger aufregenden Berufen gearbeitet, bevor er sich entschied, sein Studium zu beenden und sein Staatsexamen für das Lehramt abzulegen. Heute ist er Philosophielehrer in einem Gymnasium in Jerez de la Frontera. Seine Ferien verbringt er mit Reisen in mehr oder weniger exotische Länder und dem Erforschen merkwürdiger Todesfälle. Die vergessenen Toten ist sein erstes Buch, das Ergebnis dieser Expeditionen.
Hätte Jeremy Die vergessenen Toten gelesen, hätte er auf Seite 27 vom Fall eines jungen Schweden erfahren, Olaf Svensson, der im Sommer 1974 nach einem zehntägigen Mallorca-Urlaub spurlos verschwunden war. Zwei Jahre später hatte man in einer Unterwassergrotte menschliche Überreste gefunden, genau unterhalb des Hotels, in dem er gewohnt hatte, die möglicherweise die seinen waren. Diese These der Polizei wurde gestützt durch die Tatsache, dass man 1974 über einem Geländer an der Steilküste ein Handtuch fand, was darauf schließen ließ, dass Svensson kurz vor seiner Abreise noch ein letztes Bad nehmen wollte, von dem er nicht mehr zurückkehrte.
César Pacheco berichtet in seinem noch unveröffentlichten Manuskript, der Fall habe sein Interesse geweckt, weil er im selben Sommer zufällig auch im Park Hotel Panorama war, das seine Schulkameraden damals für die Abiturfahrt ausgesucht hatten.
Weiter hinten, im letzten Kapitel, auf Seite 234, hätte Jeremy eine der, literarisch gesehen, besten Passagen lesen können, wo Pacheco erzählt, dass ihm im Sommer 2003 im Haus einer sehr armen Familie in Neu Delhi ein amerikanischer Reisepass auf den Namen Nicholas Devine aufgefallen war, der wie eine Reliquie auf einer Art Familienaltar stand. Neugierig fragte er, wer dieser Mann sei und warum sie seinen Pass hätten, und sie erzählten ihm, dass ihr Großvater vor etwa dreißig Jahren nach einer Demonstration einen verletzten Hippie aufgelesen habe. Der junge Mann war trotz aller Pflege gestorben, und sie hatten ihn im Garten hinter ihrem Haus begraben, aber nicht gewagt, die Behörden zu informieren, weil sie fürchteten, man könne sie des Raubmordes verdächtigen. Da sie keine Adresse irgendeines Angehörigen hatten, beschlossen sie, sein Andenken in Ehren zu halten, als wäre er einer der Ihren.
Weder Jeremy noch die fünf Überlebenden der Clique vom 28sten werden das je erfahren und auch nicht, dass Telmo Rodríguez im Sommer 74 seine Versetzung beantragt hatte und seinem Antrag stattgegeben wurde, während seine Frau noch ein Jahr länger in Elda blieb. 1980 ließen sie sich scheiden. Sie erhielt das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter, die am 27. Januar 1975 in Alicante zur Welt kam, als das Land gerade begann, das franquistische Joch abzuschütteln, wenige Monate vor dem Tod des Diktators.
Loles Fuentes heiratete 1982 zum zweiten Mal und hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Exmann. Beide wurden 2006 pensioniert. 1984 heiratete auch er wieder, eine um zwanzig Jahre jüngere ehemalige Schülerin, und ging in die Politik. Heute ist er Bürgermeister seines Heimatdorfs in der Provinz Soria.
Javier Hidalgo zog sich nach der Mallorca-Reise in ein Kloster in Huesca zurück und widmete sich wie geplant seinen geistlichen Exerzitien. Marisa Gutiérrez sah er nie wieder. Seit er am Morgen nach ihrer gemeinsamen Nacht auf dem Schiff die Abwesenheit einer seiner Schülerinnen bemerkt hatte, machte er sich Vorwürfe, weil er seine Pflichten vernachlässigt hatte, um mit einer Frau zu schlafen. Marisa hatte versucht, ihn zu überzeugen, dass er das Unglück nicht hätte verhindern können, aber schließlich waren sie übereingekommen, dass er eine Zeit lang ins Kloster gehen sollte und sie nach seiner Rückkehr zu Beginn des Schuljahres 1974/75 über alles sprechen würden. Er kam nicht wieder. Seither war
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