Das Geheimnis der Rosenlinie - Esch, W: Geheimnis der Rosenlinie
Kapitel 1
Interrogatis Ioannis, das geheime Buch der Ketzer
Südfrankreich Anno Domini 1215
Nachdenklich ging der Ketzerrichter einige Schritte hin und her. Sein Blick war starr, sein Gesicht grau, wie in Stein gemeißelt. Unglaublich, was ihm der Bettelmönch eben berichtet hatte, es erschien ihm einfach unfassbar. Dieser bezeichnete die Häresie der Katharer als Spiel des Teufels, ja, als Machwerk des Satans, das er armen Seelen wie süßen Wein einflößte, um sie so zu verführen, zu verhexen.
Hexerei! Bisher war Häresie für den Inquisitor die beharrliche Leugnung der einen, der reinen Lehre Jesus Christus. Nur die Lehre, die Jesus an die Apostel und ihre Nachfolger, die Bischöfe, weitergegeben hatte, war für ihn die reine Wahrheit. Aber vielleicht war es ja gut, dass jener Mönch ihn auf die Hexerei aufmerksam gemacht hatte. Beinahe wäre er geneigt gewesen, den Worten des Häretikers, den er im Raum nebenan verhörte, Glauben zu schenken. Er hatte viele Geistliche und Bischöfe als skrupellose Ausbeuter und Plünderer bezeichnet. Die Klöster bezeichnete er als Lusthäuser, die der Geistlichkeit dienten, um ihre illegitime Kinderschar vor der Welt zu verstecken. Stimmte es denn nicht? Hatte er nicht selbst einem Bruder in Christo die Beichte abgenommen, in der jener ihm ohne Umschweife gestand, der Fleischeslust gefrönt zu haben? Nur langsam löste sich der Inquisitor aus seiner Starre und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Rechtgläubigkeit , Rechtgläubigkeit – so ging es ihm ständig durch den Kopf. Häretiker waren einst rechtgläubige Christen, die aber leider von der wahren Lehre abgefallen waren und sie verfälschten. Das ist es, genau das, dachte er nun bei sich. Nicht nur, dass sie der heiligen Schrift widersprechen. Nein, sie produzierten auch unzählige Irrtümer und verbreiteten diese auch noch in Windeseile, schnell wie eine Seuche. Völlig missverstanden hatten sie das Wort des lebendigen Gottes, das da sagt, dass wir alle seine Kinder sind, geschaffen nach seinem Ebenbild. Luzifer gleich wollen sie mit ihren Irrlehren ihre schreckliche Geltungssucht befriedigen und Gott übertrumpfen.
Der Mönch hatte sich auf die Syntagma bezogen, Justins verschollenes Werk, wonach allen voran der Satan und seine Dämonen als Anstifter zur Häresie gelten. Häresie – eine Form der Magie und Zauberei? Justin, der Kirchenvater, ein Philosoph, was wollte er den Menschen mitteilen? Was wusste er vor über tausend Jahren schon von der Hexerei? Hatte Satan Justin zu verführen gesucht, den Heiligen womöglich sogar mit Zauberei belegt?
Kein Recht der Welt gestattet es den Häretikern, sich auf Bibelstellen zu berufen, um damit ihre ketzerischen Behauptungen zu untermauern, aber genau das war die Gefahr! Denn je mehr sich die Ketzer der heiligen Schrift bedienten, umso größer die Gefahr, dass zwischen der reinen, wahren Lehre und den Lügen der Häresie kaum noch zu unterscheiden war.
War das, was jener Mönch berichtete, die Imitatio dei, die von jenem berühmten Prediger Domingo de Gusmán verbreitet wurde, um die abtrünnigen Christen in die Gemeinschaft der heiligen Mutter Kirche zurückzuführen?
Der Inquisitor schüttelte entschieden den Kopf und setzte sich an den Schreibtisch. Da lag es vor ihm, jenes unselige Buch, das man bei dem Mann fand, der nebenan im Verhörraum in Ketten gelegt wartete. Erneut las er die Überschrift:
Interrogatio Ioannis
Ich, Johannes, euer Bruder, euer Leidensgenosse in Drangsal, sagte, um auch des Himmelreiches teilhaftig zu sein, als ich mich an die Brust unseres Herrn Jesus Christus lehnte: »Herr, wer ist es, der dich ausliefern wird?«
Der Herr antwortete: »Der, der seine Hand mit mir in die Schüssel taucht.«
Da fuhr Satan in ihn, und er suchte, mich auszuliefern.
Ich sagte: »Herr, in welcher Herrlichkeit befand sich der Satan bei deinem Vater, bevor er stürzte?«
Er sagte zu mir:
»Er befand sich in einer solchen Herrlichkeit, dass er die himmlischen Streitkräfte befehligte. Aber ich saß bei meinem Vater. Satan führte alle an, die dem Vater ähnlich werden wollten. Er stieg vom Himmel in die Tiefe hinab, stieg von der Tiefe empor bis zum Thron des unsichtbaren Vaters und wachte über die Herrlichkeit, die in allen Bereichen des Himmels war. Er gedachte, seinen Sitz über den Wolken des Himmels zu nehmen, und er wollte dem Höchsten ähnlich sein. Als er in die Luft hinabstieg, sagte er zum Engel der Luft: „Öffne mir die Tore der Luft!“ Und
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