Töchter des Schweigens
widersprach Lena. »Ich weiß, dass sie lange an einem Roman gearbeitet hat, jahrelang. Einmal hat sie sogar angekündigt, uns ein Stück daraus vorzulesen, aber später sagte sie dann etwas Sonderbares …«
»Was denn?« Ingrid beugte sich vor, um Lena zum Weitersprechen zu animieren.
»Ich weiß nicht, warum, aber es hat sich mir eingeprägt. Wir sprachen über irgendeinen Roman, der gerade sehr angesagt war, und da meinte Candela, sie wüsste jetzt, dass sie es als Schriftstellerin nie zu etwas bringen würde, weil sie ihre Fantasie verloren hätte, weil sie ihr Leben lang nur eine einzige Geschichte schreiben könnte, und die hätte sie schon geschrieben. Und als Verfasser eines einzigen Romans wäre man kein Schriftsteller.«
»Und wovon handelt der Roman?«, wollte Ingrid wissen.
Lena zuckte mit den Schultern.
»Sie wird ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben haben«, vermutete Ana und streckte David, der Bier besorgt hatte und damit auf sie zukam, die Hand entgegen.
»Das tun wir im Grunde doch alle«, sagte Rita und lächelte David an, um ihm für das Bier zu danken.
»Was für einen Eindruck hat sie auf dich gemacht?«, fragte Lena.
»Candela? Einen guten. Sie war atemberaubend wie immer.« Sie hatte nicht vor, ihren Freundinnen zu erzählen, worüber sie und Candela in Wahrheit gesprochen hatten. Vorerst nicht einmal Ingrid. »Sehr geschminkt, sehr schmal.«
»Sie hat stark abgenommen. Ich finde es, ehrlich gesagt, ein bisschen beängstigend. Den ganzen Winter über hatte sie eine Infektion nach der anderen, nichts Ernstes, aber wenn es keine Mittelohrentzündung war, war es eine leichte Bronchitis oder sonst irgendwas. Und ich glaube, das liegt daran, dass sie kaum etwas isst. In unserem Alter ist es nicht gut, so dünn zu sein, es sei denn, man ist so veranlagt.«
Ana und Rita wechselten einen Blick und fingen an zu lachen.
»Ihr wart schon immer so. Und ich bin nur deshalb nicht fett, weil ich beinahe vegetarisch und obendrein allein lebe. Nur für sich selbst zu kochen ist todlangweilig, also mache ich mir einen Salat und esse vor dem Computer.«
»Du arbeitest Tag und Nacht, Lena«, sagte David. »Du solltest dich mehr amüsieren. Ich weiß nicht. Ausgehen, dir einen Mann suchen.«
»Was Männer angeht, bin ich bedient, danke. Zwischen siebzehn und siebenundzwanzig hatte ich genügend, um zu kapieren, was es damit auf sich hat.«
»Du scheinst ja keine sehr hohe Meinung von Männern zu haben«, hakte er nach.
»Das ist nicht wahr. Ich finde Männer völlig in Ordnung, solange sie sich nicht in meiner Wohnung oder in meinem Bett aufhalten.«
Alle brachen in Gelächter aus.
»Das meine ich ernst, verdammt noch mal! Ich habe viele männliche Freunde. Nur sind das fast alles Freundschaften aus der Ferne und übers Internet. Vor ein paar Tagen ist es mir sogar gelungen, Kontakt zu einem Dänen aufzunehmen, den ich vor mindestens fünfundzwanzig Jahren aus den Augen verloren hatte. Da sich aber herausgestellt hat, dass er Musiker ist, habe ich ihn über seine Homepage ausfindig gemacht.«
»Und von Nick? Immer noch keine Spur?«, fragte Ana.
Lena schüttelte den Kopf. Ihr Lächeln verschwand schlagartig.
»Ich versuche es nun schon, seitdem ich Internet habe, aber da gibt es nichts. In der amerikanischen Botschaft will man schon seit Jahren nichts mehr von mir wissen, vermutlich halten sie mich für verrückt. Aber was ist so ungewöhnlich daran, wenn eine Frau den Vater ihres Kindes sucht, zumal dieses mittlerweile dreißig ist und niemand mehr Unterhalt oder Alimente verlangen wird.«
»Nick ist der Vater deines Sohnes?«, fragte Ingrid.
Lena nickte.
»Weißt du seinen Nachnamen?« Schon hatte sie ihr elektronisches Notizbuch gezückt.
»Nick Devine. Oder zumindest nannte er sich so, und so stand es auch in seinem Pass, aber auf diese Kleinigkeiten habe ich nie geachtet, Ingrid. Damals, ich rede von der Zeit um 1977, waren Nick und ich ein glückseliges Hippiepärchen und scherten uns nicht um Ausweisdokumente, Visa und solchen Quatsch. Wir waren in Indien. Dort haben wir uns zum letzten Mal gesehen, in Neu Delhi, als ich niederkam und wir Zuflucht in der amerikanischen Botschaft suchten. Er lieferte mich an der Tür ab, sagte den Wachleuten, ich sei seine Frau, meine Fruchtblase sei geplatzt, und er komme gleich wieder, und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen. Nie wieder.«
Lena schließt die Augen, denn obwohl so viel Zeit vergangen ist, kommen ihr die Tränen, und wie immer
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