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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: barcelo
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schwankt sekundenlang sacht hin und her, und dann wird Lena wieder von einer Wehe zerrissen, sie krümmt sich, schließt die Augen, und als sie sie wieder öffnet, ist Nick in der Nacht von Neu Delhi verschwunden, untergetaucht in einem Strom wütender Menschen.
    »Haben dir die Amerikaner nicht geholfen, ihn zu finden?«, fragte Ingrid. Ana und David waren aufgestanden und plauderten mit Freunden am Nachbartisch.
    »In ihren Archiven gab es ihn nicht. Jedenfalls nicht unter diesem Namen. Keine Spur von einem Nick Devine, der etwa so alt gewesen wäre wie meiner. In Omaha, der Stadt, aus der er stammte, gab es drei, aber zwei waren alt und einer gerade erst geboren.«
    »Und mehr weißt du nicht von ihm? Den Mädchennamen seiner Mutter oder wo er zur Schule ging oder ob er Geschwister hatte.«
    Lena lächelte matt.
    »Ich habe dreißig Jahre damit zugebracht, alle Daten zusammenzutragen, die er mir im Lauf unserer gemeinsamen Zeit gegeben hatte. Ich habe mir sogar ein paar Hypnosesitzungen in Barcelona geleistet, weil ich versuchen wollte, mich an mehr zu erinnern, als er mir erzählt hat. Nichts passt zusammen. Nick Devine war wohl eine falsche Identität, ein erfundener Name, um zu vergessen, wer er wirklich war. Womöglich hatte er den Pass sogar geklaut, was weiß ich? Damals war es mir egal, ich fand es eher romantisch. Wir zwei, bedrängt, verfolgt, allein gegen die Welt. Wie im Film. Entschuldige, Rita, das meine ich nicht abfällig.«
    Rita schüttelte den Kopf.
    »Es hat lange gedauert, bis ich eingesehen habe, dass er mich verlassen hatte, uns verlassen hatte. Jahrelang habe ich gedacht, er könnte bei dieser Demonstration getötet worden sein. Es waren mehrere Leute aus dem Westen und viele Inder dabei ums Leben gekommen, doch obwohl Nicks Name nirgends gelistet war, hielt ich es immer noch für ausgeschlossen, dass er sich einfach so davongemacht hatte. Wir liebten uns wirklich, und er hatte sich wahnsinnig auf das Baby gefreut. Wie ihr seht«, schloss sie und wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen, »bin ich noch immer nicht darüber hinweg.«
    »Was hast du deinem Sohn gesagt?«, fragte Rita.
    »Zuerst, dass sein Vater bei dieser Demonstration umgekommen wäre und ich, als ich aus der Klinik entlassen wurde, seinen Leichnam abgeholt und in Indien begraben hätte. Das habe ich auch meinen Eltern und meiner Großmutter erzählt, obwohl sie es vermutlich nie recht geglaubt haben. Später, als ich Jeremy für alt genug hielt, ihn an meinen Zweifeln teilhaben zu lassen, sagte ich ihm das Gleiche wie euch jetzt. Er bekam einen Wutanfall. Er beschimpfte mich. Wir redeten tagelang kein Wort miteinander. Irgendwann vertrugen wir uns wieder, aber es wurde nie mehr wie früher. Kurz darauf fing er an zu studieren und bekam dann bald ein Stipendium für die USA. Er ist Amerikaner, weil er auf amerikanischem Boden geboren wurde. Jetzt lebt er dort und kommt mich fast nie besuchen. Seine Frau ist aus Shanghai, aber ich kenne sie nur von Fotos.«
    »Er hat geheiratet, ohne es dir zu sagen?«
    »Ja. Er rief mich an, um mir mitzuteilen, dass sie geheiratet hätten, es wäre alles sehr schnell gegangen und sie hätten den Kreis sehr eng gehalten. Er meinte sogar, ich, gerade ich, müsste doch Verständnis dafür haben, dass sie die Familie nicht dabeihaben wollten.«
    »Warum?«, fragte Ingrid.
    »Weil ich auch mit achtzehn von zu Hause fort bin, zuerst nach Ibiza, dann nach London und später nach Indien. Weil meine Eltern jahrelang nicht wussten, wo ich war …, vermutlich hatte er nicht unrecht.«
    »Dann waren wir ja etwa zur selben Zeit in London«, sagte Rita, während sie mit halb geschlossenen Augen nachrechnete. »Das müsste 76 gewesen sein, stimmt’s?«
    »Ja. Ich kam kurz nach diesem brutal heißen Sommer, über den damals alle Welt sprach, in London an. Ich versuchte, über deine Eltern zu erfahren, wie ich Kontakt zu dir aufnehmen könnte, aber am Telefon vertrösteten sie mich zwei- oder dreimal, und ich hatte kein Geld, es weiter zu probieren. Diese Ferngespräche kosteten ein Vermögen.«
    »Davon haben sie mir nie etwas gesagt.« Rita wirkte plötzlich niedergeschlagen.
    »Anscheinend hast du dich auch nicht oft gemeldet.« Lena lächelte ihr versöhnlich zu. »Mach dir nichts draus, Rita, ich verstand dich sehr gut, aber ich hätte dich halt gern gesehen. Ich war sehr einsam in jenem Herbst, sehr verloren, bis ich Nick kennenlernte.«
    Für ein paar Sekunden verfängt sich Rita im Netz

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