Töchter des Schweigens
ihrer damaligen Welt, den Vorlesungen an der Filmhochschule, Jims Wohnung in Kensington, den Bäumen im Park, von denen die Blätter fallen und einen dicken bunten Teppich bilden, den sie vom Schlafzimmerfenster aus betrachtet, während sie darüber nachdenkt, ob das Leben dort, mit ihm, wirklich das ist, was sie will.
»Also, Mädels«, sagte David und setzte sich wieder hin. »Habt ihr Hunger? Weil wir nämlich für zehn Uhr einen Tisch reserviert haben und langsam reingehen sollten.«
»Was habt ihr mit dem Kleinen gemacht?«, fragte Ingrid, während sie das Notizbuch einsteckte.
»Er schläft bei einem Freund. Eine geniale Lösung, die es mir gestattet, mit vier Frauen essen zu gehen.«
Auf dem Weg zum Speisesaal warf Rita Ingrid einen raschen Seitenblick zu und bemerkte, dass sie ihr Raubvogelgesicht aufgesetzt hatte, wie immer, wenn sie auf der Jagd war. Offenkundig hatte sie sich vorgenommen, Nick Devine aufzustöbern.
Juni 1974
Es ist drei Uhr morgens. Marga und Manolo schlendern in der Mitte der Calle Martínez Anido zwischen den beidseitig aufgereihten leeren Holzstühlen hindurch, die noch vor wenigen Stunden von jubelnden Zuschauern besetzt waren, jetzt auf den nächsten Festumzug warten und nur noch vereinzelten Betrunkenen, die ihnen mit blödem Grinsen, verlaufener Schminke und einer Flasche in der Hand nachstieren, als Rettungsanker dienen.
Auch sie sind beschwipst, stützen sich gegenseitig und versuchen, im Gleichschritt zu gehen wie beim Aufmarsch. Marga ist als Maurin kostümiert, Manolo als Student, doch haben sie schon vor einer Weile einen kurzen Abstecher nach Hause gemacht, um die unbequemsten Teile loszuwerden – sie den federgeschmückten Turban, den schweren Gurt mit dem Krummsäbel und den langen Mantel, er den bebänderten Umhang und den Riesenbleistift –, und tragen nur noch das Nötigste, das ihnen trotzdem am Körper klebt, denn auch nach Einbruch der Dunkelheit hat die Schwüle kaum nachgelassen.
Sie gehen in zufriedenem Schweigen, er hat seinen Arm um ihre Schultern gelegt, sie ihren um seine Hüften, und sie genießen ihre Müdigkeit, die Musik, die bruchstückhaft von überallher auf sie eindringt, die Sommernacht, das Gefühl, Moros y Cristianos zu feiern, was bedeutet, dass es bis zum Ende des Schuljahres nicht mehr lange hin ist und sie bald den Ort hinter sich lassen und Studenten sein werden.
»Um wie viel Uhr bist du mit Schminken dran?«, erkundigt sich Manolo.
»Um halb fünf.«
»Dann lohnt es nicht mehr, sich schlafen zu legen. Gehen wir beim cuartelillo vorbei und schauen mal, wer da ist?«
Sie machen kehrt und wandern dieselbe Straße wieder hinunter, Richtung Santa-Ana-Kirche, erwidern das Lächeln und die Grußworte anderer Umzugsteilnehmer, die auch ein wenig torkeln und eine Auffrischung der Schminke gebrauchen könnten. Man hört grölende Stimmen: »Wir machen durch bis morgen früh und singen bumsfallera, bumsfallera«. Einer im Schmugglerkostüm kotzt vor eine Garage, während seine beiden Freunde, die als Piraten verkleidet sind, warten, bis er fertig ist, um weiterzuzechen.
In der Nähe des Clubs hören sie Musik und wechseln einen fragenden Blick, beschließen aber weiterzugehen. Jenseits der Calle Nueva wird die Nacht still, es begegnen ihnen kaum noch Menschen. Ihr cuartelillo ist in einer Seitenstraße nahe der Kirche, und als sie dort eintreffen, scheint niemand mehr da zu sein, obwohl im Hinterzimmer noch Licht brennt und leise Musik erklingt: Black Magic Woman . Vermutlich macht irgendein Freund ein Nickerchen auf einem der wackligen Sofas, die sie mit vereinten Kräften hergeschafft haben.
»Was möchtest du trinken?«, fragt Manolo.
»Ich weiß nicht. Gar nichts. Ich glaube, wir haben genug getrunken.«
»Ach, komm schon, ich mache dir einen Cuba Libre oder einen Wodka-Lemon oder so. Es ist doch Moros y Cristianos .«
»Na gut, irgendwas.«
Manolo verschwindet in den dunklen Tiefen des Lokals, und Marga bleibt im ersten Raum zurück, dem einzigen, der zur Straße geht, und wiegt sich träge im Rhythmus der Musik vor einem Plakat mit einem lebensgroßen Frankenstein, den manche der Mädchen furchterregend finden. Am Boden glimmen zwei sehr schwache, mit roten Tüchern abgedeckte Glühbirnen. Marga zündet sich eine Zigarette an und genießt, in ihren eigenen Dunst gehüllt, den Augenblick, die Einsamkeit, die köstliche Mattigkeit nach dem Festumzug. Sie ist müde, aber sie kann ja ein Weilchen schlafen, während sie
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