0671 - Der vergessene Gott
Château Montagne, Erde
Draußen tobte der Schneesturm. Heftige Windböen wirbelten die weißen Flocken wild durcheinander und schleuderten sie immer wieder gegen die gläsernen Wände und das Dach des Swimmingpool-Bereichs. Die beiden Menschen, die bei subtropischen Temperaturen nackt und träge am Rand des Pools lagen, ließen sich davon nicht beeindrucken. Das beheizte Glas verhinderte, daß sich der Schnee zu einer gefährlichen Last anhäufte, und bot ihnen außerdem einen ungehinderten Blick auf die winterlichen Naturgewalten.
»Südsee«, sagte Nicole Duval unvermittelt.
Professor Zamorra sah von dem Buch auf, in dem er recht unkonzentriert gelesen hatte, und runzelte die Stirn.
»Häh?« entgegnete er.
Seine Lebensgefährtin und Mitstreiterin seufzte. »Da ist es warm.«
»Hier auch.«
»Klar, aber um das zu erreichen, verheizen wir soviel Energie, daß die Regierung demnächst ein eigenes Kernkraftwerk für uns bauen muß; ganz zu schweigen davon, daß man sich nur nach draußen wagen kann, wenn man Vorkehrungen für eine Antarktis-Expedition getroffen hat.«
Unwillkürlich zuckte Zamorra leicht zusammen. Das Wort »Antarktis« löste bei ihm immer noch unangenehme Erinnerungen aus, obgleich die damaligen Geschehnisse nun schon etliche Wochen zurücklagen. Die von Rico Calderone ausgesandte Expedition ins Südpolgebiet, wo in der verschütteten Blauen Stadt der Schwarzzauberer Amun-Re aus seinem Kälteschlaf erweckt worden war. Mit all den bösen Folgen - die Teilnehmer der Expedition waren die ersten Opfer des Unheimlichen geworden, und offenbar hatte es auch Robert Tendyke, der sie begleitete, nicht geschafft, mit halbwegs heiler Haut davonzukommen.
Der Mann, der schon seit über fünf Jahrhunderten lebte, konnte seine Ermordung überstehen, wenn er Zeit genug fand, an den Schlüssel zu denken und die Zauberworte zu benutzen, die ihm den Zugang nach Avalon öffneten. Dort nur konnte er dem Tod ein Schnippchen schlagen und kurz darauf zur Erde zurückkehren.
Oft hatte er das schon getan in seinem langen Leben. Oft war er dabei in neue Identitäten geschlüpft. Aber warum hätte er das diesmal tun sollen? Und selbst wenn: zumindest seinen Freunden hätte er sich offenbaren können.
Seine Rückkehr war längst überfällig.
So blieb nur eine Schlußfolgerung: Er war tot, war eines der Opfer, die Amun-Re's Wiedererweckung gekostet hatte.
Raffael Bois war das zweite Opfer, der alte Diener, der oftmals als »der gute Geist des Hauses« bezeichnet worden war. Raffael hatte sein Leben gegeben, um das des jungen Lord Saris zu retten. Auch hier trug die böse Magie des Amun-Re die Schuld.
Raffael fehlte an allen Ecken und Enden. Nach seiner einstigen Allgegenwärtigkeit, zu jeder beliebigen Tages- und Nachtstunde, wirkte Château Montagne jetzt leer und kalt. Selbst das fröhliche Kinderlachen des jungen Lords oder das tolpatschige Herumtollen des Jungdrachen Fooly klangen jetzt irgendwie anders als früher.
Zamorra war überzeugt, daß es noch lange dauern würde, bis er sich daran gewöhnt hatte, daß es Raffael Bois nicht mehr gab. Und so wie ihm ging es auch Nicole und den anderen, die im Château wohnten oder ein und aus gingen.
Amun-Re war tot, war vernichtet worden. Das Tor zu jener höllischen Welt, in der die Blutgötzen darauf warteten, über die Erde herzufallen, versiegelt - verschlossen von den drei Zauberschwertern Gwaiyur, Salonar und Gorgran. Nie mehr würden diese Klingen benutzt werden können, wenn nicht erneut die Gefahr des Eindringens jener uralten Dämonen beschworen werden sollte.
Auch zwei Dhyarra-Kristalle waren verloren - jener Sternenstein 8. Ordnung, den Thor von Asgaard in seiner Sterbestunde Zamorra und Nicole geschenkt hatte, um ihnen dabei gleichzeitig das nötige Para-Potential zu übertragen, mit dem sie ihn bedienen konnten. Das Potential war ihnen sicher geblieben, der Kristall selbst durch einen Frostzauber Amun-Re's zerstört. Desgleichen der zweite Machtkristall, den Ted Ewigk besessen hatte; mit ihm hatte Ted den Dunklen Lord ausgelöscht und den Kristall dabei verloren. Der paradoxe Kristall und die Paradox-Magie des Dunklen Lords hatten sich gegenseitig aufgehoben…
Auch in den Tiefen der Hölle hatte sich einiges verändert. Satans Ministerpräsident Lucifuge Rofocale war tot. Auf seinem Thron regierte jetzt der Dämon Astardis.
Und Rico Calderone, der die Schuld an Amun-Re's Erwachen trug, entwickelte sich mehr und mehr vom Menschen zum Dämon. Seine
Weitere Kostenlose Bücher