Töchter des Schweigens
eine Zigarette an und knüllt die leere Schachtel zusammen. Sie wünscht sich, der Film möge bald zu Ende sein. Sie nimmt an, alle wünschen sich das, nur dass sich keine aufraffen kann, es klar zu sagen. Und sie bringt es nicht fertig, Ingrid das anzutun.
Andere Szenen folgen, alle fröhlich, alle bei Tag. Rita erinnert sich an ihre Versuche, auch nachts zu filmen, aber nie reichte das Licht aus. Trotzdem weiß sie nicht, was am Ende dabei herausgekommen ist, denn sie hat sich das Ergebnis ja nie angesehen. Sie lässt den Blick über die mit Bildern geschmückten Wände schweifen, über das Bücherregal, und wundert sich, dass das alles real ist, jetzt, da sie mit einem Mal den Sog der entschwundenen Welt spürt und weiß, dass die Verbindung wiederhergestellt ist, als hätte man unwissentlich einem Vampir Zutritt zum Haus gewährt, sodass dieser fortan ein- und ausgehen kann, ohne um Erlaubnis zu fragen.
Wieder sind die Mädchen zu sehen, diesmal in der Abenddämmerung, sehr schick, bildhübsch.
»Das war der letzte Tag«, sagt Ana. Sie steht auf und holt sich etwas zu trinken.
»Woran siehst du das?«, will Carmen wissen.
»An meinem Kleid. Meine Mutter hatte mir dieses weiße Kleid genäht und darauf bestanden, dass ich es mitnehme. Mir war es zu fein, zu brav für eine mallorquinische Diskothek, aber schließlich habe ich es angezogen, als wir mit diesen Finnen verabredet waren. Dann habe ich es irgendwie verloren. Als ich zu Hause meine Klamotten ausgepackt habe, war es weg, und ich musste mir schnell eine Notlüge ausdenken, falls meine Mutter mich danach fragte.«
»Was denn für eine?«, erkundigt sich Teresa.
»Das weiß ich nicht mehr. Es war unnötig. Niemand hat mich gefragt.« Ana zuckt mit den Schultern und kuschelt sich wieder aufs Sofa.
Sie erinnert sich an ihren Vater, der sie im Hafen von Alicante erwartet, an die Stille im Auto, die sie zu füllen versucht, indem sie redet und redet wie ein Wasserfall, um ihn nicht zu Wort kommen zu lassen, um nicht hören zu müssen, was er ihr sagen wird, was sie schon seit Monaten weiß und während der letzten Woche beinahe hat vergessen können. Doch als sie Elda erreichen, sagt ihr Vater, ihre Mutter sei endgültig ausgezogen, und er überlege, ob er sie nicht wegen Ehebruchs und böswilligen Verlassens der Familie anzeigen sollte. Ana gefriert das Blut in den Adern. Eine Ehebruchsklage ist kein Pappenstiel; darauf stehen mehrere Jahre Haft. Ihre Schwester ist in Teruel im Zeltlager, und sie verbringt den ganzen Abend weinend, ohne jemanden zu haben, der sie getröstet hätte, bis sie endlich einschläft. Als sie erwacht, ist ein neuer Tag, und das Leben geht weiter.
In der nächsten Szene ist es fast Nacht, und man kann nicht viel erkennen. Es sieht aus, als zitterten Marga die Hände, denn die Bilder sind ständig in ruckhafter Bewegung, und man kann die Gestalten der Mädchen kaum ausmachen, die stolpernd, als seien sie todmüde oder betrunken, ein Schiff besteigen.
»Am letzten Abend habt ihr wohl ganz schön getankt«, bemerkt Ingrid. Längst lacht niemand mehr.
»Wir haben kaum geschlafen«, sagt Candela. Es ist das Erste, was sie sagt, und ihre Stimme klingt gepresst, als bereite ihr das Sprechen Mühe. »Wir sind erst im Morgengrauen ins Bett gekommen, mussten noch packen und vor zwölf das Hotelzimmer räumen, und bevor wir aufs Schiff gingen, das am Nachmittag auslief, wenn ich mich recht erinnere, wollten uns die Lehrer unbedingt noch zum Schloss Bellver schleppen. Wir waren wie eine Truppe von Zombies, aber Doña Marisa nötigte Marga, den Ausflug bis zum Schluss zu dokumentieren. Deshalb wackelt sie so mit der Kamera.«
Rita drückt leicht Candelas Arm, der um ihre Taille liegt.
»Und dann kamt ihr in den Sturm«, ergänzt Ingrid.
»Welchen Sturm?«, fragt Teresa, ohne sich umzuwenden, ganz auf die letzten Bilder konzentriert, die ihre Gesichter zeigen, verzerrt und bleich vor einem immer dunkleren Hintergrund.
»Gab es nicht einen Sturm in dieser Nacht? Einen Unfall?«, beharrt Ingrid.
Die Frauen sehen einander an. Sekundenlang, während sich die Spule weiter und weiter dreht und das herausgerutschte Ende des Streifens durch die Luft peitscht, sagt keine ein Wort.
»Ja«, erwidert Rita schließlich. »In dieser Nacht fiel Mati ins Meer. Ihre Leiche wurde nie gefunden.«
Ingrid fährt herum, die Augen weit aufgerissen, die Hand vor den Mund geschlagen, und für einen Moment muss Rita ein Auflachen unterdrücken. Ingrids
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