Tödliche Ewigkeit
wahnsinnig viel passiert.
Innerhalb weniger Tage hatte sie eine illegale Verhaftung erlebt, eine Falschaussage vor Gericht gemacht und als Letztes (wie sie hoffte) der Verhaftung eines Verrückten beigewohnt, der zwei Menschen umgebracht hatte. Ann kannte die Statistiken, es war durchaus möglich, dass sie in ihrer ganzen Laufbahn nie mehr mit solchen Ereignissen konfrontiert werden würde. Der Cop, der ständig seine Waffe zieht? Ein Klischee aus schlechten Fernsehserien. Jährlich waren nur wenige von den vierzigtausend Polizisten, die dem NYPD angehörten, in eine Schießerei verwickelt. Doch ihr Gefühl der Unsicherheit wurde verstärkt durch die Tatsache, dass sie einem Brutalo zugeteilt worden war. Jeff Mulligan schien nichts so sehr zu lieben wie das Katz-und-Maus-Spiel. Dieser impulsive, völlig unberechenbare und eigensinnige Mann liebte ganz offensichtlich die Panik, die er auslöste … Ann wusste, dass sie selbst manchmal übergroße Angst durch einen fast exzessiven Kult der Selbstbeherrschung kompensiert hatte. Und Jeff verkörperte für sie diese Haltung, die ihr im Grunde zuwider war. Aber wenigstens bluffte er nicht nur: Bei der Festnahme des Schützen hatte er ohne Zögern sein Leben aufs Spiel gesetzt. Er hatte die Gefahr ignoriert, völlig entspannt und konzentriert wie ein Tier, das zum Sprung ansetzte. So als hätte der Tod keine Bedeutung für ihn. Ann fragte sich, woher er diese Kraft nahm.
»Mulligan hat also offenbar noch eine Schonfrist bekommen?«
Ann zuckte zusammen. Millar stand vor ihr.
»Darf ich?«
Er setzte sich.
»Einige Minuten der Entspannung, bevor ich meinen Dienst antrete …«, fügte er hinzu und sah sie eindringlich an.
Sie wandte den Blick ab und unterdrückte ein Lächeln.
»Woher weißt du, dass er eine Schonfrist bekommen hat?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Eine einfache Schlussfolgerung. Du begreifst wohl langsam, wie das hier läuft. Woodruff ist ehrgeizig. Seit er bei der Polizei ist, nimmt er Abendkurse, er hat ein Diplom an der New York University gemacht und bereitet seine Doktorarbeit in Jura vor. Er ist ein geschickter Taktiker und genießt Protektion von hoher Stelle. Er strebt einen Posten in der Polizeiverwaltung an, und sobald er ihn hat, führt der Weg steil nach oben! Aber dazu braucht er zunächst gute Ergebnisse. Und dafür ist ihm dieser Dreckskerl Mulligan von Nutzen. Nur …«
»Was nur?«
»Eines Tages wird Woodruff seinen verdammten Job bekommen, und ich wünsche ihm nur das Schlechteste. Und an diesem Tag wird es niemanden mehr geben, der Jeff Mulligan schützt. Und das …«
Seine Augen blitzten:
»Und das ist dann das Ende seiner Laufbahn!«
SPANISH HARLEM
Die grellen Rottöne der Leuchtreklamen und die gespielte Heiterkeit der sich anbietenden Frauen bildeten einen Kontrast zu den trübseligen Mienen der Männer, die diese ihrem Verlangen geweihte Straße entlangschlenderten. Hier und da waren die Schatten anderer Männer auszumachen, die sich in Toreinfahrten verbargen, zurückhaltend, um die Macht der Triebe nicht zu beeinträchtigen, und doch präsent, um für den geregelten Ablauf ihres Geschäfts zu sorgen.
Einige der Mädchen machten Mulligan Offerten, andere erkannten ihn und begrüßten ihn mit einem Augenzwinkern oder einem Lächeln. Er entdeckte Leticia. Sie kehrte ihm den Rücken zu, so als hätte sie ihn nicht bemerkt. Jeff stellte sich neben sie und sog die süßlichen Gerüche der Straße ein.
»Schon lange her«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
»Du hast meine Nummer.«
»Eine Hure ruft den Kunden nicht an.«
» Estúpida . Gehen wir nach oben?«
Sie sah ihn an und streichelte seine Wange.
»Wie viel?«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Zu teuer für dich.«
Sie gingen an dem schmutzigen kleinen Hotel vorbei, in das Leticia ihre Kunden führte, bogen rechts ab und betraten zwei Straßen weiter ein altes, für das Viertel ungewöhnlich sauberes Haus. Dort besaß Leticia eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, die sie zwei Jahre zuvor zu einem Spottpreis gekauft hatte. Jeff Mulligan kannte einen Angestellten des städtischen Immobilienbüros, der ihm gegen einige diskrete Bestechungsgelder Einsicht in die vertrauliche Liste der Steuersünder gewährt hatte, deren Immobilien zwangsversteigert werden würden. Bei solchen Gelegenheiten musste man der Erste sein. Leticia hatte die Information genutzt und bei einem Geldverleiher, der keine weiteren Fragen stellte, einen Kredit aufgenommen, für den Mulligan
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