Tödliche Ewigkeit
Männer verschwinden, aber das liegt an den Bandenkriegen und an der illegalen Emigration, deshalb gibt es dazu keine gesicherten Zahlen.
In das rosa Kreuz ist ein Name eingeritzt. Raúl Espejo geht daran vorbei, ohne es zu bemerken. Er hat es eilig. Dennoch ist sein Schritt gemessen, da er auf jede Bewegung in seiner Umgebung achtet. Es dämmert, die Straßen sind nicht erleuchtet, und Colonia Anapra ist gefährlich. Im Osten von Juárez befindet sich ein über mehrere kleine Hügel verteiltes Viertel, wo Wellblechhütten, hübsche bunt gestrichene Häuschen und ultramoderne Supermärkte unmittelbar nebeneinanderliegen. Raúl bleibt stehen und zieht eine kleine Taschenlampe hervor. Er liest noch einmal die auf ein Stück Papier gekritzelte Adresse und betrachtet einen Plan, auf dem die Straße allerdings nicht verzeichnet ist. Dazu muss man wissen, dass Juárez eine Stadt ist, die sich im steten Wandel befindet: Neue Viertel entstehen, andere verschwinden durch Umsiedlungen von der Bildfläche. Die dunkelhäutigen Bauern aus dem südlichen Mexiko, die nicht mehr von ihrer Ernte leben können, ziehen zuhauf in die Grenzstadt – erbarmungswürdige Anwärter auf ein illegales Exil bei dem reichen Yankee-Nachbarn oder einen Job in einer der rund vierhundert Maquiladoras , jenen Montagebetrieben, die die mulinationalen Konzerne wegen der steuerlichen Vorteile und der von der Regierung gefügig gehaltenen Arbeiter rund um die Stadt errichtet haben. Raúl mag Juárez nicht. Er ist heute nur aus einem einzigen Grund hier: Er will seinen Sohn wiedersehen. Und Teresa, die Mutter seines Sohnes. Denn seine Frau wagt er sie nicht mehr zu nennen.
Raúl ist dreißig. Als Sohn einer armen Familie, geboren am Rand von Mexiko-Stadt, hat er sich mit zwanzig bei der Armee verpflichtet. Nach einigen Jahren haben ihn seine herausragenden Verdienste und kämpferischen Fähigkeiten eine Versetzung zum Geheimdienst eingebracht. Dieser unverhoffte soziale Aufstieg war verbunden mit ansehnlichen Prämien und einer Beförderung zum Unteroffizier. Er meldete sich zu Spezialeinsätzen, die seiner Vorliebe für Action entsprachen, ohne sich groß Fragen über ihren Sinn oder ihre Rechtmäßigkeit zu stellen. Soldaten hatten schließlich zu gehorchen. Zu seinen Aufgaben, die er mit unglaublicher Effizienz erfüllte, gehörte es, Feinde der Partei zu eliminieren.
Dann lernte er Teresa kennen. Eine engagierte Journalistin und Feministin in einem Land, wo der Machismo keine Legende ist. Sie hatte ihm die Augen geöffnet. Je mehr sie ihm über die Ungerechtigkeiten und Skandale erzählte, hier in diesem Staat, dem er blind diente, umso mehr wuchs in ihm der Zorn und verwandelte sich nach und nach in Auflehnung. Die mexikanische Demokratie war bloßer Schein. Dahinter verbarg sich eine enorme Korruption innerhalb der politischen Elite, des Militärs und der Polizei. Dazu noch die geheimen Machenschaften zwischen den offiziellen Machthabern, (gewählten Volksvertretern, Wirtschaftsbossen und den verschiedenen Zweigen der Mafia). Raúl wurde bewusst, dass seine Geheimmissionen nicht etwa dem Volk nützten, sondern nur die Oligarchie stützten, die es ausbeutete. Er verließ die Armee.
Dieser mutige Schritt, der seine Zukunft gefährdete, verriet ein politisches Bewusstsein, das er ganz offensichtlich der Frau, die er liebte, verdankte. Darauf reagierten ihre Vorgesetzten mit Verdächtigungen und Unmut. Teresa wurde bedroht und schließlich von ihrer Zeitung entlassen.
Doch das Schlimmste sollte erst noch kommen.
Raúl hatte ihr nie seine Zugehörigkeit zu einer Organisation gestanden, auf deren Konto zahlreiche politische Morde gingen. Das erledigte einige Wochen nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes ein anonymer Brief, der Raúls Vorleben mit zahlreichen Beweisen belegte.
Schlimmer als seine Vergangenheit war für sie, dass er sie belogen hatte. Sie trennte sich von ihm.
Da keine Zeitung sie mehr einstellen wollte, verließ sie Mexiko-Stadt mit ihrem Kind. Raúl brauchte zwei Jahre, um ihre Spur zu finden. Sie war jetzt Arbeiterin in einer Maquiladora in Juárez. Zahlreiche Briefe waren nötig, um sie nach einigen Monaten zu einem Wiedersehen zu bewegen. Er liebte sie immer noch, erhoffte sich aber nichts mehr. Doch er wollte unbedingt Guillermo in seinen Armen halten. Nie hätte er gedacht, dass ihm ein Kind, das er nur als Säugling gekannt hatte, so sehr fehlen könnte. Ein Schmerz, bei dem sich ihm ständig der Magen zusammenkrampfte
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