Tödliche Gier
gegen ihre Dienstvorschriften verstoßen, aber ein paar Mal war sie haarscharf daran vorbeigeschrammt.
Detective Odessa zog die Tür auf und steckte den Kopf herein. »Ms. Millhone?«
»Das bin ich.«
»Vince Odessa«, stellte er sich vor, und wir schüttelten uns die Hände. »Kommen Sie doch mit nach hinten.«
»Gerne.«
Er trug ein blaues Anzughemd, eine dunkle Krawatte, eine leichte Freizeithose, dunkle Socken und glänzend polierte schwarze Schuhe. Er hatte dunkle Haare, und sein Hinterkopf war so flach, als hätte er seine gesamte Säuglingszeit auf dem Rücken gelegen. Er war größer als ich, schätzungsweise einsfünfundsiebzig gegenüber meinen einsachtundsechzig. Er hielt mir die Tür auf und ließ mich vor ihm den Flur betreten. Ich blieb stehen, damit er vorangehen konnte. Er marschierte den Flur entlang und trat links durch eine Tür mit der Aufschrift Ermittlungen. Ich folgte ihm durch ein Gewirr kleiner Büros. Über die Schulter sagte er: »Shelly meinte, es ginge um Dr. Purcell.«
»Stimmt. Seine Exfrau hat mich engagiert, damit ich Nachforschungen wegen seines Verschwindens anstelle.«
Odessa sprach in neutralem Ton weiter. »Ich hatte schon das Gefühl, dass so etwas kommt. Sie war letzte Woche hier.«
»Was halten Sie von ihr?«
»Da muss ich mich auf mein Aussageverweigerungsrecht berufen. Werden Sie nach Stunden bezahlt?«
»Ich habe ihren Scheck noch nicht eingelöst. Ich hielt es für klug, erst mit Ihnen zu sprechen.«
Sein »Büro« war in einer Standardkabine untergebracht: schulterhohe graue Wände, die mit fester, synthetischer Schlingenware bezogen waren. Er setzte sich an den Schreibtisch und bot mir den einzigen anderen Stuhl innerhalb des engen Raums an. Gerahmte Fotos seiner Familie standen vor ihm: Frau, drei Töchter und ein Sohn. In einem kleinen metallenen Bücherregal hinter mir standen ordentlich aufgereiht Diensthandbücher, Lehrwerke und mehrere Gesetzesbände. Er war sauber rasiert, abgesehen von einem Streifen Stoppelhaare, die er ausgelassen haben musste, als der Rasierer über die Kerbe in seinem Kinn hüpfte. Über seine dunkelblauen Augen zogen sich energische Brauen. »Also, womit kann ich Ihnen helfen?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich würde gern hören, was Sie wissen, falls Sie bereit sind, Ihr Wissen mit mir zu teilen.«
»Damit habe ich kein Problem«, sagte er. Er beugte sich vor und sah einen Stapel dicker Akten durch, die auf einer Seite seines Schreibtischs lagen. Dann zog er ein Ringbuch unten aus dem Stapel und legte es vor sich hin. »Hier herrscht das totale Durcheinander. Ständig heißt es, in den nächsten sechs, acht Monaten würde alles auf Computer umgestellt. Das papierlose Büro. Glauben Sie daran?«
»Es wäre schön, aber ich bezweifle es.«
»Ich auch«, sagte er. Er blätterte mehrere Seiten vor, bis er zur ursprünglichen Meldung des Vorfalls kam. »Ich bin gerade befördert worden. Da ich der Jüngste im Team bin, ist diese Sache in den Augen der anderen ein Lehrgang für mich. Schauen wir mal, was wir da haben.« Sein Blick wanderte im Zickzackkurs über die Seite. »Crystal Purcell hat am Dienstag, dem 16. September, eine Vermisstenmeldung aufgegeben, dreieinhalb Tage nachdem der Doktor abends nicht wie erwartet nach Hause gekommen ist. Ihre Angaben wurden zu Protokoll genommen. An diesem Wochenende hat es mehrere Einbrüche in Wohnhäuser gegeben, daher bin ich der Meldung erst mittags am Donnerstag, dem 18. September nachgegangen. Soweit wir feststellen konnten, war Purcell nicht in Gefahr, und sein Verschwinden hatte nichts Verdächtiges an sich.« Er hielt inne und sah mich an. »Ehrlich gesagt haben wir vermutet, er sei aus freien Stücken abgehauen. Sie wissen ja, wie es ist. In der Hälfte der Fälle taucht der Typ hinterher mit eingekniffenem Schwanz wieder auf. Dann stellt sich heraus, dass er eine Freundin hat oder mit seinen Kumpeln auf Sauftour war. Es gibt ein halbes Dutzend Erklärungen, die allesamt harmlos sind. Natürlich ist es hart für die Ehefrau, aber nichts Bedrohliches.«
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Eine halbe bis eine ganze Million Leute laufen jedes Jahr davon. Es ist schlimm für Familie und Freunde. Wahrscheinlich haben Sie es ja selbst schon miterlebt. Zuerst verdrängen sie. Können nicht glauben, dass ihnen jemand eine solche Schweinerei antut. Später werden sie wütend. Jedenfalls habe ich die jetzige Mrs. Purcell angerufen und einen Termin für Freitagnachmittag ausgemacht.
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