Toedliche Spiele
vorgestern Abend, als Peeta mir Tausende Meilen weit weg vorkam, trifft mich seine Nähe jetzt bis ins Mark. Als wir im Schlafsack liegen, zieht er meinen Kopf hinunter, damit ich seinen Arm als Kissen benutzen kann, der andere bleibt schützend über mir liegen, selbst als er schon eingeschlafen ist. Wie lange hat mich niemand so gehalten. Seit mein Vater starb und ich das Vertrauen in meine Mutter verlor, hat mir kein Arm mehr so ein Gefühl der Geborgenheit gegeben.
Ich liege da und betrachte mithilfe der Brille die Wassertropfen, die auf den Höhlenboden platschen. Regelmäßig und einschläfernd. Mehrmals dämmere ich kurz ein und fahre mit einem Ruck auf, dann habe ich ein schlechtes Gewissen und ärgere mich über mich selbst. Nach drei, vier Stunden kann ich nicht anders, ich muss Peeta wecken, weil ich die Augen nicht mehr offen halten kann. Ihm scheint es nichts auszumachen.
»Morgen, wenn es trocken ist, suche ich uns einen Platz so hoch in den Bäumen, dass wir beide in Ruhe schlafen können«, verspreche ich und schon bin ich eingeschlafen.
Aber der Morgen bringt keine Wetterbesserung. Die Sintflut hält an, als wollten die Spielmacher uns alle davonschwemmen. Der Donner ist so gewaltig, dass er die Erde erschüttert. Peeta schlägt vor, trotzdem nach draußen zu gehen und Nahrung zu suchen, aber ich erkläre ihm, dass das bei diesem Gewitter sinnlos wäre. Er würde keinen Meter weit sehen können und am Ende wäre er nur bis auf die Knochen durchnässt. Er weiß, dass ich recht habe, aber das Knurren in unseren Bäuchen wird langsam quälend.
Der Tag zieht sich hin und es wird Abend, ohne dass das Wetter sich geändert hätte. Unsere einzige Hoffnung ist Haymitch, aber nichts geschieht, entweder aus Geldmangel - alles kostet jetzt Unsummen - oder weil er mit unserer Darbietung unzufrieden ist. Wahrscheinlich Letzteres. Ich würde sofort zugeben, dass wir heute nicht gerade atemberaubend sind. Hungrig, von Verletzungen geschwächt, immer darauf bedacht, dass die Wunden nicht wieder aufbrechen. Zwar sitzen wir aneinandergeschmiegt in unserem Schlafsack da, aber hauptsächlich, um uns warm zu halten. Das Aufregendste, was wir tun, ist ab und zu einzunicken.
Ich bin unsicher, wie wir die Romanze weitertreiben sollen: Der Kuss gestern Abend war schön, aber es wird einiger Vorbereitungen bedürfen, bis es zu einem zweiten kommt. Bei uns im Saum und auch bei den Kaufleuten gibt es Mädchen, die sich auf diesem Gebiet hervorragend auskennen. Ich dagegen hatte nie viel Zeit oder Verwendung dafür. Wie dem auch sei, ein Kuss ist eindeutig nicht mehr genug, denn wenn es so wäre, hätten wir gestern Abend Lebensmittel bekommen. Mein Instinkt sagt mir, dass Haymitch nicht nur Zärtlichkeiten will, er ist auf etwas Persönlicheres aus. So wie damals, als wir fürs Interview geprobt haben und er mich dazu bringen wollte, etwas über mich zu erzählen. Bei mir ist das vergebliche Liebesmüh, im Gegensatz zu Peeta. Vielleicht ist es deshalb das Beste, ihn zum Reden zu bringen.
»Peeta«, sage ich leichthin. »Im Interview hast du gesagt, du würdest schon immer für mich schwärmen. Wann hat das angefangen?«
»Mal überlegen. Am ersten Schultag, glaube ich. Da waren wir fünf. Du hattest ein rotes Karokleid an und deine Haare ... waren zu zwei Zöpfen geflochten, nicht zu einem. Während wir darauf warteten, uns aufzustellen, zeigte mein Vater auf dich«, sagt Peeta.
»Dein Vater? Wieso?«, frage ich.
»Er sagte: >Siehst du das kleine Mädchen? Ich wollte ihre Mutter heiraten, aber sie ist mit einem Bergarbeiter durchgebrannt<«, sagt Peeta.
»Was? Das hast du dir ausgedacht!«, rufe ich.
»Nein, die Geschichte ist wahr«, sagt Peeta. »Und ich fragte: >Mit einem Bergarbeiter? Wieso wollte sie einen Bergarbeiter, wenn sie dich hätte haben können?< Und er sagte: >Weil ... Wenn er singt, dann hören sogar die Vögel auf zu zwitschern und lauschen.<«
»Stimmt. Das tun sie. Taten sie, meine ich«, sage ich. Bei dem Gedanken, wie der Bäcker seinem Sohn dies erzählt, bin ich verblüfft und gerührt. Zum ersten Mal denke ich, dass meine Abneigung gegen das Singen und die Musik vielleicht gar nicht daher kommt, dass ich es für Zeitverschwendung halte. Vielleicht erinnert mich all das einfach zu sehr an meinen Vater.
»An dem Tag fragte die Lehrerin in der Aula, wer den
Valley Song
kenne. Sofort schoss deine Hand in die Höhe. Sie stellte dich auf einen Schemel und ließ dich singen. Und ich schwöre,
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