Toedlicher Gesang
fort. „Was ist mit der Sportlehrerin?“,
fragte Emily besorgt weiter. Der Leiter lächelte. „Kind du hast ein gutes Herz.
Aber auch um sie müsst ihr euch keine Sorgen machen. Sie wurde zwar verletzt,
auch recht schwer. Aber sie ist genau wie meine Frau und meine Tochter eine
Meerjungfrau. Dass sie sich nicht gewehrt hat, war wohl eher Schock. Sie wird
schweigen über das, was passiert ist, genauso wie wir alle, hoffe ich?“, fragte
er und schaute in die Runde. Die anderen nickten.
Ein paar Tage später
schwärmten die Schüler in die Aula, wo heute die Vorführung der kleinen
Meerjungfrau stattfinden sollte. Als alle saßen und sich der Lärm gelegt hatte,
ging der Vorhang auf. Zum Erstaunen der meisten Schüler trat Dascha in der
Rolle der kleinen Meerjungfrau auf. Kyle spielte den Prinzen und Emily hatte an
Daschas stelle die Rolle der bösen Seehexe übernommen. In der ersten Reihe
saßen Kira und Koko und schauten der Aufführung zu, abwechselnd sich
gegenseitig und die anderen auf der Bühne anlächelnd. Cindy saß ein paar Reihen
weiter hinten und beobachtete statt der Aufführung das Pendel, das sie in der
Hand hielt und das hin und her schwang. Dabei nuschelte sie leise etwas
Unverständliches vor sich hin. Kira drehte sich kurz zu ihr um und musste
grinsen. Cindy hatte sich wieder in ihre Rolle als kleiner Freak zurückbegeben
und spielte diese echt gut. Cindy hatte ihnen erklärt, dass sie diese Rolle
spielte, damit der Junge, der sie eines Tages erlösen würde, sie auch mit ihren
seltsamen Eigenschaften lieben und sie gewähren lassen würde, egal wie seltsam
ihm ihr Verhalten erscheinen möge. Kira und Koko hielten sich bei der Hand und
beobachteten, wie sich Dascha als die kleine Meerjungfrau in den Prinzen Kyle
verliebte, der bösen Seehexe Emily ihre Stimme verkaufte, um ein Mensch zu
werden, und versuchte ihren Prinzen zu erobern, während die böse Seehexe
versuchte ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ab und an hörte Kira
Schüler tuscheln, wieso der Schulschwarm Kyle mit einem Mädchen wie Dascha
zusammen wäre. Am Anfang war Dascha noch ziemlich geknickt gewesen über dieses
Gerede über sie, doch Kyle hatte ihr klargemacht, dass all das Gerede nichts an
dem ändern würde, wie es jetzt war. Weil, wie sich ja gerade erst gezeigt
hatte, die Liebe tatsächlich die größte Macht auf der Erde ist. Kira schaute
sich nochmal in den Zuschauerreihen um und sah ganz hinten in einer Ecke im
Schatten eines Vorhangs den Leiter stehen, neben ihm Lilith und die
Sportlehrerin. Dann kam endlich das, auf was sie so brennend gewartet hatte,
das Finale des Stückes. Der Prinz vernichtete die böse Seehexe, schloss seine
Prinzessin in die Arme und küsste sie unter dann doch donnerndem Applaus.
Als sich die Schüler
zurück in die Wohnhäuser begeben hatten, traten auch der Leiter und seine Frau
aus der Aula hinaus. Es war bereits dunkel, der Mond tauchte das Gelände in
fahles Licht. Die Nacht war klar wie immer, die Sterne leuchteten am Himmel.
Langsam schlenderten sie zum Strand. Dort blieben sie stehen und schauten übers
Meer, den Strand, das alte Schiffswrack, ihr Haus auf der Klippe und dann
zurück zum Internat. „Es ist schön, dass wieder Ruhe eingekehrt ist“, sagte
Lilith. Ihr Mann nickte. „Die Toten können wir nicht zurückholen, aber dank
dieser Mädchen - und unserer Tochter - konnten noch mehr Opfer vermieden
werden. Es tut mir sogar inzwischen Leid, dass ich versucht habe sie
aufzuhalten. Diese mutigen Kinder, von ihnen bräuchte die Welt mehr“, stimmte
er ihr zu. Sie standen noch eine Weile da und schauten auf das Meer hinaus,
dann gingen sie langsam hoch zu ihrem Haus. Lilith schloss die Tür auf, ihr
Mann ging hinein. Sie schaute noch einmal zurück zum Strand und hielt kurz
inne. Dort stand eine Frau, die vorhin nicht dort gewesen war, und schaute aufs
Meer hinaus wie sie und ihr Mann zuvor. Die Frau war groß, trug ein langes, mittelalterlich
wirkendes Kleid mit Schleifen und Rüschen, ihre langen braunen Locken wehten
sanft im Wind. „Stimmt, dich hatte ich ganz vergessen“, flüsterte Lilith vor
sich hin. Dann seufzte sie einmal tief. „Weißt du, ich hoffe, es bleibt eine
Weile ruhig. Wir wissen ja nie, wer, wann oder was ...“ „…als Nächstes kommt.“,
sprach ihr Mann ihren Satz zu Ende. Dann trat sie ein und schloss leise die
Tür.
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