Verwechseljahre: Roman (German Edition)
1
N ebenan wurde was für dich abgegeben.« Meine Mutter saß mit ihrer Lieblingswolldecke vor dem Fernseher. Sie war gerade einundneunzig geworden und wohnte noch bei mir. Na ja, die Wahrheit war: Ich wohnte noch bei ihr. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass wir seit sechsundvierzig Jahren eine eingeschworene Zweck- und Wohngemeinschaft waren. Abgesehen von meinem schrecklichen Aufenthalt in dieser grauenhaften Klinik damals, waren Mutter und ich noch nie länger als drei Tage getrennt gewesen.
»Bei welchem Nebenan?« Schwungvoll stellte ich die Einkaufstüten auf den Tisch und schob Mutter ein Kissen in den Rücken. Bitte sag jetzt nicht: »Bei Rainer«, flehte ich innerlich.
Rainer Maria Frohwein war unser direkter Nachbar im Sechsparteienhaus. Ein früh pensionierter Lehrer, der mich aus irgendeinem Grund vergeblich liebte. Es war wirklich anstrengend, ihm ständig begegnen zu müssen.
»Bei Rainer!«
Ich schluckte. Anscheinend gab es kein Entrinnen. Ich meine, Rainer Frohwein war nett, keine Frage. Aber irgendwas in mir stellte sich quer. Ich konnte auch ohne Rainer leben.
»So ein hilfsbereiter Mann.« Mutter richtete sich auf und lächelte mich an. Im Schein der Nachmittagssonne, die durch den Vorhangspalt fiel, sah ich ihre tausend lieben Fältchen. Sie streckte ihre mageren Hände nach mir aus. »Komm, Kind, setz dich!«
Ich ließ mich auf die Lehne ihres Rollstuhls sinken. Mutters Augen wurden wässrig: »Carin, Liebes. Der Rainer ist doch so ein netter Kerl.«
»Ja, Mutter. Ich weiß.«
»Und er schreibt dir so nette Briefe.«
Ich verdrehte die Augen.
»Mutter, was wurde bei Rainer für mich abgegeben?«
»Ein Zettel. Mit einer Telefonnummer. Ich hatte meine Brille nicht griffbereit, deshalb habe ich zu Rainer gesagt, er soll ihn dir doch nachher selber geben.«
Wenn das nicht ein Trick war. Rainer gab mir ständig Zettel. Da standen Gedichte drauf.
Kostprobe gefällig?
Dort,
wo ich
immer hinwollte –
am Ende
des Regenbogens –
dort
fand ich
dich.
Schön, nicht? Wenn unsere benachbarten Wohnungen im Maiblümchenweg 17 a für ihn das »Ende des Regenbogens« waren – warum nicht. Ich sah darin eher eine Warteschleife. Meine Mutter wollte nur, dass Rainer wieder einen Grund hatte, vorbeizuschauen. Sie hatte einen Narren an ihm gefressen. Klar, er war ein »alleinstehender Mann«, geschieden, gediegen, nett und zuverlässig … leider auch sterbenslangweilig. Seinen Modeberater hätte ich erschlagen können. (Kleiner Scherz: Er hatte keinen. Irgendjemand hatte ihn bereits erschlagen.) Ich versuchte, unse ren Nachbarn auf Abstand zu halten, was gar nicht so einfach war.
»Verstehe. Und was ist das für eine Telefonnummer?«
»Keine Ahnung. Laut Rainer hat jemand aus Hamburg bei ihm angerufen, der eigentlich dich sprechen wollte.«
»Wer ist denn so blöd und ruft Rainer an, wenn er mich sprechen will?« Ich lachte auf. Wenn das nicht schon wieder einer seiner Tricks war. »Haben wir etwa kein Telefon?«
»Doch.« Mit zitternder Hand griff Mutter nach dem kleinen Gerät, mit dem sie die Lehne ihres Rollstuhls elektrisch verstellen konnte. Versehentlich fuhr sie erst mal in die Horizontale. »Aber ich hab das Klingeln nicht gehört, mein Hörgerät war nicht an. Und du warst ja nicht da.«
»Nein, Mutter.« Ich fuhr sie wieder in die Sitzposition. »Ich war in der Bibliothek. Wie jeden Tag.« Ich verdrehte die Augen. »Ich arbeite dort. Auch da bin ich telefonisch zu erreichen.« Ich tätschelte meiner Mutter liebevoll die Hand. Manchmal hatte sie den einen oder anderen kleinen Aussetzer. Vielleicht kultivierte sie das aber auch und spielte mir die Verwirrte vor, um ihre Ziele zu erreichen.
»Rainer sagt, der Anrufer war von irgendeinem Verlag.«
Ach so. Jetzt verstand ich, was los war. Ich wollte den Stern abonnieren und hatte irgendeinem Zeitschriftenanbieter auf den AB gesprochen und um Rückruf gebeten. Ich begann, die Einkäufe auszupacken. »Das ist nicht so wichtig, Mutter. Aber erzähl, wie ist es dir heute so ergangen?«
Mutter schilderte mir, was sie den ganzen Tag erlebt hatte. Erst war die Putzfrau da gewesen. Dann war der Briefträger gekommen, anschließend Essen auf Rädern, schließlich war sie vor dem Fernseher eingenickt, bis Rainer wegen dieser Telefonnummer vorbeigeschaut hatte – und schon war der Tag fast wieder vorbei.
»Warum hat Rainer den Zettel nicht einfach hiergelassen?« Leicht verärgert stellte ich Milch und Joghurt mit etwas zu viel Karacho
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