Tödliches Orakel
Angst, die Sie erzeugt haben, mit einer Glückwunschkarte für ein paar lausige Euro.«
Ich starrte ihn an, er starrte zurück – ohne zu blinzeln, ohne das leiseste Anzeichen dafür, dass ihm das Gesagte leidtat. Oder dass er Zweifel daran hegte. Und das reichte mir dann auch.
»Ein schönes Restleben noch«, sagte ich und schaltete meine Kamera wie auch mein Mikrofon aus.
***
Sam blieb sitzen, rührte sich nicht. Eine Minute, zwei, drei. In der vierten Minute holte er die Zigaretten aus der Jackentasche, in der fünften Minute stand Frau Berger im Zimmer, mit entrüstet in die Hüften gestemmten Armen.
»Ich muss doch sehr bitten«, sagte sie, was aus ihrem Munde eine grobe Beleidigung war.
Sam sah sie nur an.
»Machen Sie die Zigarette aus«, forderte Frau Berger, Sam sah auf seine qualmende Hand.
»Sie behauptet, dass ich sterbe«, antwortete er, was Frau Berger nicht aus der Ruhe brachte.
»Das tun wir alle, ab dem Moment unserer Geburt.«
»Aber niemand weiß, wann. Niemand weiß das Jahr, den Monat, den Tag.«
Frau Berger lachte, leise und humorlos. »Ach ja? Waren Sie schon mal in der Onkologie? Dort schauen die Ärzte auf Ihren Tumor und geben Ihnen eine Eieruhr mit. Die tickt, tickt und tickt.«
»Aber das sind Ärzte«, sagte Sam mit der altklugen Version seiner dunklen, nun vor Angst rauen Stimme.
Frau Berger nickte. »Ja, junger Mann, da haben Sie recht. Die Ärzte sind Pfuscher, haben bei meinem Mann genau 59 Tage zu wenig geschätzt. Das Fräulein lag richtig«, setzte sie hinzu, trat vor, nahm Sam die Zigarette aus der Hand und trug sie mit spitzen Fingern vor sich her aus dem Raum, als handele es sich um eine entsicherte Handgranate.
Sie schloss die Tür hinter sich, was mich schmunzeln ließ. Sam gefiel Frau Berger, keine Frage, sonst hätte Sie ihn an einem Ohr gepackt und vor die Tür gesetzt. Wahrscheinlich weckte er bislang verborgene mütterliche Instinkte: Waschen, kämmen, füttern, durchknuddeln. So, wie er jetzt dasaß, mit dem gesenkten Kopf und den Handballen auf den Augen, sah er aus, als könne er all das dringend gebrauchen.
»Ich verstehe, dass Sie glauben, so etwas sehen zu können«, sagte er schließlich, und es war ihm anzusehen, wie er sich quälte. Wie er vernünftig, aufgeklärt und abgeklärt wirken wollte, aber trotzdem hier sitzen und fragen musste.
»Aber verstehen Sie denn nicht, dass ich einfach nicht daran glauben kann?«
Ich schaltete das Mikrofon wieder ein, ließ meine Kamera jedoch aus.
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Ich glaube auch niemand anderem, der von sich behauptet, er könne in die Zukunft sehen. Ich weiß nur, dass ich das kann. Es macht keinen Spaß, und mein Leben ist dadurch verdammt kompliziert. Und Sie haben immer noch nicht die Frage aller Fragen gefunden.«
»Die Mutter aller Fragen?« Sam lächelte ein schiefes Lächeln.
Ich nickte, auch wenn er das gar nicht sehen konnte.
»Ja. Sie waren eben schon auf dem richtigen Weg.«
»Ich dachte, Sie wollten nicht orakeln«, konterte Sam, und ich musste lachen. Zur Belohnung schaltete ich nun auch meine Kamera wieder ein.
»Gut, dann Klartext. Und rein hypothetisch, damit Sie in keinen Glaubenskonflikt geraten.«
Ich lächelte, um meinen Worten die Spitze zu nehmen. Sam rieb sich die Augen, was sie allerdings nur noch röter machte.
»Sind Sie bereit? Vorurteilsfrei bereit?«
Er nickte, atmete tief ein.
»Prämisse eins«, sagte ich. »Nehmen Sie an, ich kann, was ich kann. Woher auch immer, warum auch immer.«
»Gut.«
»Prämisse zwei: Nehmen Sie an, nicht ich habe Ihnen diese Karte geschrieben, sondern jemand anderes.«
»Gut.«
»Konklusion aus Prämisse eins und zwei?«
Sam schwieg, ich seufzte.
»Noch mal, mit anderen Worten. Ich kann die Zukunft sehen. Jemand sagt Ihnen, Sie sollen mich fragen, was an einem bestimmten Tag passiert. Was sagt Ihnen das über den Absender?«
Stille, dann atmete Sam tief ein.
»Das sagt mir, dass der Absender schon wissen muss, was am 10. August passiert.«
»Richtig.«
»Aber wie kann er das wissen?«
Ah, endlich. Ich lächelte.
»Weil der Absender der Karte derjenige ist, der sie töten wird. Er hat den Entschluss gefasst, er hat einen Plan gemacht, und nach jetzigem Stand der Dinge wird es auch funktionieren.«
Tag 4 – Donnerstag, 3. August
»Ich rufe jetzt die Polizei«, sagte Frau Berger.
Ich stand auf dem Balkon vor meinem Schlafzimmer, hatte das Telefon am Ohr und überblickte das, was vor einer Woche noch
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