Tödliches Rätsel
anzuschauen, als heftig an der Haustür geklopft wurde. Beide gingen sie hinauf, um zu öffnen. Athelstan erblickte eine hochgewachsene, elegante Gestalt, von Sonnenlicht umstrahlt. Mit einer juwelenbesetzten Mütze in der Hand trat der Mann ein. Die Sporen an den Fersen seiner Stiefel klirrten musikalisch auf den Bodendielen. Er trug kein Schwert bei sich, aber die eine Hand ruhte auf dem edelsteinfunkelnden Dolch, der im Schwertgurt steckte. Ein Mantel von dunklem Safrangelb war elegant über die eine Schulter zurückgeschlagen. Cranston musterte das gutgeschnittene braune Gesicht mit den spöttischen grünen Augen, und er sah, daß der Bart des jungen Mannes nach der adretten französischen Art gestutzt war. Eine Erinnerung erwachte in ihm.
»Kenne ich Euch, Sir?«
»Ihr seid Sir John Cranston, der Coroner der Stadt?«
»Das will ich aufrichtig hoffen. Aber ich habe Euch etwas gefragt, Sir.«
»Ich bin Sir Lionel Havant und gehöre zum Haushalt Seiner Gnaden, des Herzogs von Lancaster.«
»Ach, einer von John von Gaunts Knaben seid Ihr? Ein Lakai des Regenten?« Breitbeinig stand Cranston da und musterte den Mann von Kopf bis Fuß. Dann streckte er die Hand aus und trat einen Schritt vor. »Oh, nichts für ungut, Mann. Ich kannte Euren Vater, Sir Reginald Havant von Crosby in Northampton.«
Der junge Mann lächelte. Aber dann straffte er sich, als sei ihm wieder eingefallen, weshalb er gekommen war. »Sir John, ich bin erfreut, Euch zu sehen, doch ich komme geradewegs vom Regenten. Er möchte seine fünftausend Pfund Silber haben.«
»Da wird er sich gedulden müssen«, knurrte Cranston. »Ich bin Coroner, kein verdammter Wundertäter!«
Havant schaute Athelstan an, und der verdrehte die Augen zum Himmel.
»Sir Lionel…« Athelstan schaltete sich rasch ein, bevor Cranston sich um Kopf und Kragen reden konnte. »Wir sind noch nicht lange hier. Wir werden bald Fortschritte machen.«
Der junge Ritter nickte.
»Ihr habt eine Botschaft für uns?« fragte Athelstan.
»Ja, woher weißt du…?«
Athelstan deutete auf die kleine Pergamentrolle im Gürtel des Mannes.
»Ach ja.« Havant zog sie hervor. »Sir John.« Er entrollte das Pergament. »Seine Gnaden der Regent ist zudem besorgt um einen seiner Schreiber, Edwin Chapler aus der Kanzlei vom Grünen Wachs. Gestern nacht hat man seine Leiche aus der Themse geholt. Sie liegt jetzt beim Menschenfischer. Chapler wurde seit etwa zwei Tagen vermißt. Seine Gnaden möchte, daß Ihr den Leichnam in Beschlag nehmt, die Gebühr bezahlt und die Todesursache herausfindet.«
»Aber ich bin zu beschäftigt, um mich mit betrunkenen Schreibern abzugeben«, maulte Cranston.
»Er war nicht betrunken, Sir John«, antwortete Havant. »Chapler wurde ermordet.«
Wenig später marschierte Cranston, begleitet von Athelstan, über die Cheapside und die Bread Street hinunter. Der Coroner wollte zur »Barque des Hl. Petrus«. Diesen ziemlich exzentrischen Namen hatte der Menschenfischer seiner »Kapelle«, seinem Leichenschauhaus, gegeben. Cranston drängte sich durch die Menge und bahnte sich seinen Weg durch die betriebsamen Straßen. Ringsherum und über ihnen verdunkelten die zweiund dreistöckigen Häuser, schmal und aneinandergezwängt, das Sonnenlicht, und die Menschen stießen und rempelten einander in den verkehrsreichen Gassen an. Stände und Läden waren geöffnet. Die Luft hallte vom Geschrei der Ladenjungen, hauptsächlich der Tuchhändler, deren große Karren und Stände mit einer reichen Vielfalt von Stoffen bedeckt waren. Brüsseler Linnen, verschwenderisch bestickt in leuchtenden Farben, englische Tuche und Textilien aus Louvain und Arras. Weiter unten, in den Straßen von Trinity, türmten sich Waren aus aller Welt — vom Libanon bis Venedig — auf den Ständen: Kisten mit Zimt, Säcke mit Safran und Ingwer, Fäßchen voller Feigen, Bitterorangen und exotisch duftenden kandierten Zitronenschalen. Man sah Kästen voller Johannisbrot, Mandeln und Muskat, Säcke mit Zucker und Pfeffer, Weinfässer, Schreibtafeln und Schachteln mit Kreide sowie Lederwaren in den verschiedensten Brauntönen. Heringe lagen in offenen Fässern neben Bergen von Obst und Gemüse.
Athelstan hätte Sir John zu gern befragt, aber der Lärm war ohrenbetäubend. Immer wieder drohte der Coroner den frechen Lehrjungen mit der Faust, wenn sie herbeisprangen und seinen Arm festhalten wollten; dann brüllte er und schüttelte sich wie ein Bär, der von bissigen Hunden umsprungen wird.
Weitere Kostenlose Bücher