Töte, Bajazzo
der Toten zu gedenken.
Mirellas Gesicht zeigte einen angespannten und verbissenen Ausdruck.
Sie hatte die Oberlippe zurückgeschoben und nagte mit den Schneidezähnen auf der Unterlippe. Sie schaute sich auch um, diesmal normal und nicht nur ängstlich, denn sie suchte noch immer den richtigen Weg zum Ziel.
Das alte Gräberfeld war dicht bewachsen. In der Dunkelheit waren die Wege nur mehr als schwarze Streifen zu erkennen. Irgendwo raschelte immer etwas. Mäuse huschten durch das Laub, sicherlich waren auch Eichhörnchen unterwegs, um Nahrung für den Winter zu sammeln. Die großen Denkmäler auf den Gräbern wurden zu düsteren Schatten, und manche von ihnen sahen so aus, als wollten sie nach uns greifen.
Die bewachsene Umgebung lichtete sich zwar nicht, sie nahm trotzdem ein anderes Gesicht an, was ich selbst bei dieser Dunkelheit sehr schnell feststellte. Unsere Umgebung wirkte nicht mehr so gepflegt. Das Unkraut wucherte ziemlich hoch, auch die Grabdenkmäler waren verschwunden und hatten – wenn überhaupt – nur flachen Steinen Platz geschaffen, die schräg aus dem Erdboden hervorschauten.
Mirella blieb stehen. Sie zitterte wieder, was sich auch auf ihre Worte übertrug. »Hier muß es irgendwo sein, John…«
»Da vorn?«
»Ja, das ist der Ort.«
»Gehen wir hin.«
Sie hielt mich durch einen Griff am Ellbogen zurück. »Was ist denn, wenn er plötzlich erscheint? Was wollen Sie tun? Gegen ihn kämpfen, gegen ein körperloses Gespenst?«
»Mir wird schon etwas einfallen, denke ich.«
Mirella sah aus, als wollte sie lachen, dann schüttelte sie den Kopf – und erstarrte einen Moment später zu Stein.
Ich hatte ebenfalls gesehen, was sie so aus der Fassung gebracht hatte.
Es war der Fleck!
Er schwebte zuckend über einer bestimmten Stelle, die schräg vor uns lag.
»Das ist es!« keuchte Mirella, und wieder bebte sie wie Espenlaub. Ich wußte, daß es ihr schwerfallen würde, die Beherrschung zu bewahren, deshalb redete ich beruhigend auf sie ein.
»Wir mußten damit rechnen, Mirella. Wir haben es erwartet.«
»Ja, aber jetzt ist es eingetreten.«
»Die letzten Schritte schaffen wir auch noch.«
»Okay.«
Es fiel auch mir nicht leicht, den Optimisten zu spielen, aber es war besser, als die Angst zu zeigen, die auch mich quälte. Ich wußte nicht, wie stark diese Erscheinung wirklich war, ich konnte nur hoffen, daß ich stärker sein würde…
Es waren tatsächlich nur wenige Meter, die uns von dem eigentlichen Ziel trennten, und der bleiche Fleck veränderte seinen Standort nicht.
Nach wie vor zeigte er uns den Weg, und als wir stehenblieben, da berührten unsere Fußspitzen eine mit Moos und Unkraut überwucherte kleine Grabmauer, die nur knöchelhoch war.
»Da… da liegt er…«
Zum erstenmal, seit wir den Friedhof betreten hatten, holte ich meine Leuchte hervor. Ich schaltete sie ein und strahlte den kantigen Stein auf der Kopfseite des Grabs an.
Es war ein schlichter viereckiger Klotz, in den jemand den Namen des Toten eingeritzt hatte. Franco Romero!
Mehr stand dort nicht. Kein Geburts- und auch kein Sterbedatum. Nur eben der Name, und das Licht meiner Leuchte füllte die Buchstaben aus und ließ sie so wirken, als wären sie vom Mondlicht beschienen worden.
Ich schaltete die Lampe wieder aus. »Warum tun Sie das?« flüsterte Mirella.
»Es reicht das normale Licht. Außerdem möchte ich gern meine Hände freihaben.«
»Für den Kampf?«
Ich hob nur die Schultern. In den letzten Sekunden hatten wir uns nicht um den hellen Heck gekümmert, was sich nun änderte, denn zumindest ich richtete meinen Blick direkt auf dieses bleiche Ziel, das zuerst gelblich ausgesehen hatte, mittlerweile aber immer mehr an Farbe verlor, so daß es totenbleich wirkte.
Schon weiß und wesentlich schärfer konturiert als bei unserer ersten Entdeckung.
Das Gesicht schälte sich hervor.
Nein, nicht mehr das Gesicht. Mittlerweile wußte ich, daß sich Franco Romero eine Totenmaske hatte machen lassen, denn was da vor uns schwebte, war nichts anderes als eine Maske.
Nun schaute ich auf die neben mir stehende Mirella. Sie war fasziniert und gleichzeitig abgestoßen. Ihre Haltung beinhaltete zwei Gegensätze.
Auf der einen Seite sah sie aus, als wollte sie sich der Maske entgegenstürzen, auf der anderen wirkte sie so, als wäre ihr die Flucht am liebsten gewesen.
Wir schwiegen. Ich sah auch keinen Sinn darin, etwas zu sagen, wir wollten nichts von dieser unheimlichen Gestalt, es war einfach ihr
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