Töten Ist Ein Kinderspiel
Holzbank vor der Kirche, um mich auszuruhen.
Hatte ich das Richtige getan? Ich zweifelte nicht lange. Denn innerhalb von einer halben Stunde betraten zwei junge Männer die Kirche. Beide mussten die Tote gesehen haben, keiner von beiden blieb bei ihr.
Das passiert nur schlechten Menschen.
Mir wird es genauso gehen.
Sonntagabend
„Wir müssen Sie finden!“, sagte Inge. Sie und Verónica waren vom Hauptbahnhof aus direkt ins Präsidium gefahren. „Wer weiß, wen sie noch alles umbringen will, solange sie noch Munition hat!“
„Nur sich selbst“, entgegnete Berger.
„Und das soll uns nicht scheren?“
„Das habe ich nicht gesagt. Aber ich glaube nicht, dass sie Amok laufen wird. Sie hat getötet, wen sie töten musste.“
„Hat sie nicht“, widersprach Verónica, und im selben Augenblick wich ihr sämtliche Farbe aus dem Gesicht und sie schaute erschrocken in die Runde. „Es fehlt noch einer – Jürgen Knapp.“
Die Zugreise war beschwerlicher gewesen, als sie gedacht hatte. Am Bahnhof fühlte sie sich so erschöpft wie lange nicht mehr. Aber, schwor sie sich, jetzt würde sie es zu Ende bringen, auch wenn es das Letzte wäre, was sie täte.
Sie hatte eine Dreiviertelstunde auf den Bus warten müssen, er fuhr noch von der selben Haltestelle ab wie damals, als sie zurückgekommen war. Drinnen war es heiß, obwohl die Oberlichter gekippt waren, und Iris Lenz hatte Durst. Die kleine Flasche Wasser, die sie auf die Reise mitgenommen hatte, war längst leer und sie wollte keine neue kaufen. Sie hätte zum Bezahlen die Handtasche öffnen müssen und die Gefahr, dass jemand den Inhalt gesehen hätte, wäre zu groß gewesen. Zwei Scheine für den Bus und das Taxi hatte sie schon vor der Fahrt vorsorglich in das aufgenähte Täschchen gesteckt.
Iris Lenz hatte Mühe beim Aussteigen und musste sich einen Moment auf das Mäuerchen vor der Kirche setzen, um sich auszuruhen. Müde betrachtete sie das Dorf, in dem sie groß geworden war, wie durch weißes Glas. Nur noch trüb erkannte sie das Rathaus, die Apotheke an der Ecke und schließlich die Taxisäule. Sie hatte Glück. Ein Wagen wartete davor.
„Kupferhügel“, sagte sie kraftlos, „Amselsteig 47.“
Die kurze Fahrt über hielt sie die Augen geschlossen, erst als der Wagen stoppte und der Fahrer sagte: „Macht dann sechs Euro fünfzig, bitte“, sah sie sich um und zog den Zehneuroschein aus dem Täschchen.
„Stimmt so“, sagte sie und nahm das erfreute Lächeln des Mannes nur aus den Augenwinkeln wahr. Ihre Sicht schränkte sich immer mehr ein, es war, als ob sie ihrem letzten Ziel immer näher käme, sich alles in ihr auf diesen einen Augenblick verengte.
Es ging schnell.
Iris Lenz klingelte, Jürgen Knapp öffnete ihr und erkannte sie sofort. Erschrocken wich er zurück, doch als sie die Waffe vor ihm fallen ließ, tat er, was sie gehofft hatte: Er hob sie auf und schoss unüberlegt und blind, ohne ihr in die Augen zu sehen.
Seine Frau kam aus der Küche gerannt, und als sie die blutüberströmte alte Frau vor ihm liegen sah, stieß sie einen spitzen Schrei aus. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Doch Inge Nowaks Anruf kam zu spät.
In dieser Nacht schliefen viele nicht.
Jürgen Knapp fragte sich immer wieder: Warum?
Almut Knapp weinte sich die Seele aus dem Leib.
Gerhild Hoffmann blätterte in Hannes’ Tagebuch.
Ben Mangold überlegte, ob er Estebán Valero jemals würde verzeihen können.
Mathilde Taylor zeigte ihrer Nichte Sara Mangold Fotos von der kleinen Erika.
Estebán Valero dachte daran, wie sehr sein Sohn ihn hassen musste.
Frank Erkner kam nicht von seinem neuen Notebook los, das zwei Tage originalverpackt auf ihn gewartet hatte.
Wolfram Berger betrachtete in einem fremden Bett die schlafende Hiltrud Meisner.
Verónica Sanz richtete in Gedanken ihr neues Zimmer ein.
Und Inge Nowak saß rauchend am Küchenfenster und las zum zweiten Mal die Geschichte vom Leben und Sterben der Iris Lenz.
Über die Autorin
Corinna Waffender , geboren 1964 in Mainz, lebt und arbeitet in Berlin. Mehrfach literarisch ausgezeichnet, Herausgeberin verschiedener Anthologien und Initiatorin von Literaturprojekten (www.textwaren.de). Im Querverlag sind bisher von ihr folgende Romane erschienen: Zwischen den Zeilen (2002), Schnitt (2005), Flüchtig bleiben (2007), Laut gedacht (2008). Ihr erster Kriminalroman Tod durch Erinnern in der Reihe quer criminal erschien 2009.
Foto: Stephanie Juncker
Schade, dass der Krimi zu Ende
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