Töten Ist Ein Kinderspiel
Liebe zu den Menschen finden. Wieso war sie so sicher gewesen, dass sie dazu überhaupt in der Lage wäre?
Da spürte sie es.
Jede Pore ihrer Haut signalisierte es an ihr Gehirn: Es war noch jemand im Raum. Langsam, als wollte sie dem Unsichtbaren Gelegenheit geben zu verschwinden, drehte sie sich um.
Was sie dann sah, übertraf all ihre Ängste, all ihre Erwartungen. Sie starrte von dem Gesicht, das keinerlei Gefühlsregung zeigte, zur Mündung der auf sie gerichteten Waffe und begriff sofort. Der Moment, den sie eine Ewigkeit gefürchtet hatte und doch so lange schon herbeisehnte, war gekommen. Nun würde der Kreis sich schließen, ihr blieb nur noch das Flehen um Absolution. Ohne sich von der Stelle zu bewegen und dem Blick, der sie nicht aus den Augen ließ, auszuweichen, sagte sie mit fester Stimme:
„Es tut mir leid.“ Sie räusperte sich. „Unendlich leid. Ich …“
Die Bitte um Vergebung brach jäh ab.
Niemand hörte den ersten Schuss, der exakt mit dem zweiten Glockenschlag zur vollen Stunde zusammenfiel, und auch nicht den zweiten, einen Takt später. Keiner sah die Gestalt, die ihn abgefeuert hatte, die Kirche durch den Hinterausgang verlassen und sich auf eine der Holzbänke davor setzen.
Eine Stunde später würde der Rufton des Handys in der Handtasche der Toten ungehört verklingen, weil Sara Mangold nach dem Hockeytraining vor der Turnhalle vergeblich auf ihre Mutter wartete.
Noch bevor Hauptkommissarin Inge Nowak frisch geduscht der abendlichen Stadt entgegentrat, standen ihr bereits winzige Schweißperlen auf der Stirn. Die Schritte aus dem kühlen Flur in die warme Nacht taten ihr Übriges, um sie mit aller Wucht an Michaela zu erinnern – wer zum Teufel hatte sich bloß ausgedacht, klimatischen Zuständen Namen zu geben? Und noch dazu solche, die in ihr die schlimmsten Erinnerungen an ihre Jugendzeit wachriefen? Ausgerechnet Michaela Hess hatte ihr Heiko Roettgen weggeschnappt. Dabei war die Klassensprecherin aus der Parallelklasse alles andere als heiß gewesen: In der Anzahl ihrer mit bräunlichen Abdeckstiften überpinselten Pickel und im Verstecken von Babyspeck hatte sie der pubertierenden Inge in nichts nachgestanden. Doch die Rivalin wartete mit einer Geheimwaffe auf, die keine der anderen Halbwüchsigen in der Tasche hatte: Sie nahm die Pille. Oder zumindest behauptete sie es, was nicht nur die Jungs aus der Parallelklasse in kamikazehafter Sicherheit wiegte und sie zu Hess’scher Beute machten. Heiko Roettgen jedenfalls war ihr zum Opfer gefallen, und nachdem Inge die beiden knutschend hinter der Scheune erwischt hatte, war der Name Michaela zu einem Synonym für das fleischgewordene Übel geworden und lange geblieben. Ganz neutralisiert hatte sich der Klang des Namens nie, doch dass Michaela nach über dreißig Jahren so penetrant wiederkehren musste, ja sogar Tote und Verletzte forderte, empfand Inge Nowak als persönlichen Affront.
Die Pfarrerin in der Kirche war allerdings mit ziemlicher Sicherheit nicht an einem Hitzschlag gestorben.
„Oder?“
Der Pathologe schüttelte den Kopf. „Erschossen aus nächster Nähe.“
„Tatwaffe?“
„Haben wir bisher nicht gefunden.“ Dr. Breitkreuz deutete auf die Einschüsse in der Brust und im Hals der Frau. Die Leiche und der Boden waren über und über mit Blut bedeckt.
„Heißt?“
„Noch gar nichts.“
Berger betrat den Raum und hob zum Gruß die Hand in die Runde. „Wissen wir sonst schon etwas?“
Seine Kollegin deutete auf das inzwischen mit einem Tuch bedeckte Opfer.
„Erika Mangold, vierzig Jahre alt, evangelische Pfarrerin. War offenbar nur als Urlaubsvertretung hier.“
„Passt doch gut: Wir sind ja auch nur vertretungsweise hier.“ Berger spielte darauf an, dass sie für einen anderen Bezirk angefordert worden waren. Die Kriminaldirektion 4 war wegen Sommergrippe und Ferienzeit bei gleichzeitigem Anstieg der Gewaltdelikte heillos unterbesetzt und Kriminaldirektor Helmut Frickel hatte sein bestes Team aus Mitte quasi an die Kollegen ausgeliehen. Dafür war ihm vermutlich weit mehr als nur ein Abendessen mit dem Polizeipräsidenten sicher, und die Proteste der Nowak’schen Mordkommission erschienen ihm von nachrangiger Bedeutung.
„Also mir persönlich ist egal, ob wir für Mitte oder Charlottenburg ermitteln, solange wir noch Zeit dazu haben, dazwischen zu essen oder zu schlafen. So profane Dinge wie ins Kino gehen erwarte ich ja schon gar nicht mehr!“ Sie sah Berger stirnrunzelnd an. „Hattest
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