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Tolstoi Und Der Lila Sessel

Tolstoi Und Der Lila Sessel

Titel: Tolstoi Und Der Lila Sessel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Sankovitch
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geteerten flachen Teil des Hausdachs. Die schwarze Teerdecke fühlte sich unter unseren Füßen weich und warm an. Wir hockten uns auf die Steinbrüstung am Rand und blickten über die Stadt. Wir sahen das Empire State Building, das aus einem Meer von Dächern und Wasserspeichern emporragte. Mit einer Polaroidkamera fotografierten wir uns gegenseitig. Auf den Fotos – ich habe sie heute noch – sind wir jung und gesund und ziemlich dünn in unseren engen weißen T-Shirts und den knappen Shorts und lächeln zuversichtlich und selbstbewusst. Wir blieben auf dem Dach, bis der Himmel sich dunkelpurpurn färbte. Irgendwann müssen wir auch gegessen haben, aber daran erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich nur, dass ich neben ihr saß und überall um uns herum die Lichter angingen und wir bis spät in die Nacht redeten.
    Anne-Marie hatte recht mit ihrer Vermutung, dass ich, wenn ich älter würde, die Autorin Ann Beattie mehr zu schätzen wüsste, aber alles andere, was geschah, hätten wir niemals voraussehen können: dass Anne-Marie mit dem, was sie über die Kirche Saint-Eustache schrieb, eine ganz neue Betrachtungsweise von Architektur entwickelt hatte, dass ich Anwältin werden und sowohl das Historische als auch das Politische aufgeben würde, dass ich dann Kinder bekommen und die Juristerei ebenfalls aufgeben würde, dass Anne-Marie und Marvin die Pateneltern meines dritten Sohnes würden, dass Anne-Marie an einem Morgen im Januar, keine zwanzig Jahre nach dem Abend auf dem Dach, einen Knoten im Unterleib spüren und knapp vier Monate später sterben würde.
    Tolstoi schrieb: »Das Leben hat als Einziges die Bedeutung, der Menschheit zu dienen.« Er verstand diesen Dienst als religiöse Pflicht. Ich verstehe ihn als Lebenstatsache, als die Lebenstatsache, die allein uns lebendig hält. Was wir füreinander tun, ist das, was von Dauer ist. Meine Schwester ist tot, aber alles, was sie in ihrem Leben für mich getan hat, besteht weiterhin. Immer noch spüre ich ihre Hand, die sich auf der Rückbank des Autos in Berlin nach mir ausstreckte, immer noch kann ich ihre Stimme, unsere Gespräche bis tief in die Nacht hören.
    Anne-Marie ist durch alles, was sie für mich war, definiert: ältere Schwester, gebildete Frau, Schönheit, Freundin. Als solche habe ich sie verehrt, bewundert, geliebt. Mein Leben ist eine Reflexion auf ihr Leben. Ich will mich an ihr Leben schmieden, nicht an ihren Tod. Der Tod hat sie aller Möglichkeiten beraubt, aber nicht mich, und ich entscheide mich dafür, mit ihr an meiner Seite weiterzuleben, lebendig in den Erinnerungen, die ich von ihr habe. Sie wird mich auch in Zukunft führen, leiten, beraten. Sie hat mich hingeführt zu meinem Lesejahr. Unsere gemeinsame Vorliebe für Bücher und mein Wunsch, alle Bücher zu lesen, die wir zusammen hätten lesen können, waren mir dabei ein Ansporn.
    Durch Bücher habe ich gelernt, meine Erinnerungen an all die schönen Momente und Menschen in meinem Leben festzuhalten und mit ihrer Hilfe schwierige Zeiten zu überstehen. Ich habe gelernt, Vergebung zu üben, an mir selbst und an den Menschen um mich herum, die alle nur »mit ihrer schweren Last« durchs Leben kommen wollen. Ich weiß jetzt, dass die Liebe die Kraft hat, den Tod zu überdauern und dass Freundlichkeit besser als alles andere imstande ist, eine Verbindung zu knüpfen zwischen mir und dem Rest der Welt. Und das Wichtigste: Weil ich weiß, dass Anne-Marie immer bei mir sein wird und bei allen, die sie geliebt hat, verstehe ich, dass ein Leben eine dauerhafte Wirkung auf ein anderes, ja, auf viele andere haben kann.
    Für die Trauer, die wir bei dem Verlust eines geliebten Menschen erfahren, gibt es kein Heilmittel, und es sollte auch keins geben. Trauer ist keine Krankheit, auch kein Gebrechen, sie ist die einzig mögliche Antwort auf den Tod eines geliebten Menschen und eine Bekräftigung dafür, wie sehr wir das Leben wertschätzen: dafür, dass es all die Wunder und Überraschungen, die Schönheit und Befriedigung für uns bereithält.
    Unsere einzige Antwort auf die Trauer ist zu leben. Zu leben mit rückwärtsgewandtem Blick in der Erinnerung an die, die von uns gegangen sind, aber auch mit einem Blick nach vorn, voller Vorfreude und Zuversicht.
    Ich habe schon immer viel gelesen. Und immer dann, wenn ich besonders auf das Lesen angewiesen war, haben Bücher mir alles gegeben, was ich brauchte, und mehr. Mein Lesejahr hat mir den Raum gegeben, den ich brauchte, um

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