Tolstoi Und Der Lila Sessel
den Tagesablauf des Sanatoriums eingliedern, den monotonen Rhythmus, der aus Mahlzeiten, Begegnungen und Ruhezeiten bestand. Die Vormittage verbrachten die Patienten lesend oder im Gespräch. Nach einem ausgiebigen Mittagessen legte mein Vater sich am Nachmittag auf einer Liege zur Ruhe, die in einer Reihe mit vielen anderen Liegen auf der Terrasse stand. Die Patienten lagen unter warmen Wolldecken, ließen sich von der Sonne bescheinen und atmeten die heilsame Luft ein, die vom Hohen Venn im Süden und vom Aachener Wald im Norden herunterströmte.
Anfangs kannte mein Vater niemanden im Sanatorium, aber im Laufe der Zeit schloss er mit einigen der anderen Fremden dort Freundschaft. Einer der Patienten aus Polen brachte meinem Vater das Schachspiel bei, und die beiden saßen stundenlang auf der Veranda und spielten. Ein anderer Freund, ein Belgier, gab meinem Vater Französischunterricht. Mein Vater und Charles de Vries lasen sich gegenseitig aus Romanen vor, und Charles half meinem Vater mit der Aussprache. Noch heute weiß mein Vater, dass er die Aussprache des Wortes »pince-nez« (Nasenzwicker) lernte, als er den Roman Sonnenfinsternis von Arthur Koestler las.
Einige der Patienten im Sanatorium starben an der Tuberkulose. Die meisten aber, wie mein Vater, hielten durch und genasen. Sie übten sich im Schachspielen, nahmen große nahrhafte Mahlzeiten zu sich, ruhten sich nach dem Mittagessen auf der Veranda aus und gingen jeden Abend früh zu Bett. Manche Patienten wurden mit Antibiotika behandelt, andere, wie mein Vater, die nicht so schwer erkrankt waren, bekamen Luft in die Lungen injiziert, wodurch die Lungenflügel in sich zusammenfielen. Ohne frische Sauerstoffzufuhr starben die TBC-Bakterien ab, und die Lungen fingen wieder an zu arbeiten, wie ein Computer, der runter- und wieder hochgefahren wird.
1951 wurde mein Vater als gesund aus dem Sanatorium entlassen. Er ging wieder nach Löwen und begann sein Medizinstudium. Eines Abends, in einer Vorlesung über Theologie und Religion, sah mein Vater meine Mutter zum ersten Mal. Der Professor sprach über Thomas von Aquin, und währenddessen zeichnete mein Vater das Profil meiner Mutter in sein Notizheft. Nach der Vorlesung ging mein Vater auf meine Mutter zu und stellte sich vor. Meine Eltern verließen den Saal zusammen und gingen in ein Café, wo sie Tischtennis spielten. Sechs Jahre später heirateten sie, sieben Jahre später kam Anne-Marie zur Welt.
Die Zeit im Sanatorium in Eupen war eine Pause im Leben meines Vaters, eine Unterbrechung im aktiven Leben zwischen Krieg und Frieden. Es war der Einschnitt zwischen dem Mord an seinen Geschwistern, dem erzwungenen Abschied von seinen Eltern und seinem Heimatdorf, den Monaten als Soldat und Flüchtling und dem nächsten Abschnitt seines Lebens, in dem er meine Mutter fand, nach Amerika zog und der Reihe nach die Ankunft seiner drei Töchter im Leben begrüßte. Vielleicht wäre es meinem Vater nicht gelungen, in den zweiten Lebensabschnitt überzutreten, wenn er zuvor nicht zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in einem Sanatorium gelegen hätte. Seine Zeit dort heilte nicht nur seine Tuberkulose, sondern auch die Wunden, die der Krieg geschlagen hatte. Mein Vater lernte, wie man Schach spielt und wie man auf einer Veranda unter blauem Himmel fern von allen Sorgen ausruht. Die Zeit, in der er von der Krankheit genas, war auch die Zeit, in der er sich auf den Rest seines Lebens vorbereitete, eine Stärkung von Körper und Seele für die wunderbaren Erfahrungen, die noch vor ihm lagen.
Noch heute spielt mein Vater fast jeden Tag im Central Park Schach. In der Wohnung meiner Eltern ist immer eine Partie auf dem Schachbrett im Wohnzimmer aufgebaut, die er gegen sich selber spielt. Als wir Kinder waren, baute mein Vater nach dem Abendessen ein Spiel auf und verzeichnete die Züge auf einer Holztafel in seinem Arbeitszimmer. Am Tag spielte er zwischen Operationen und Patientengesprächen im Aufenthaltsraum für Ärzte im Krankenhaus. Ich erinnere mich, dass ich einmal an einem Samstag in die Klinik kam und eine Gruppe von Ärzten sah, die sich um meinen Vater und einen Kollegen scharten und deren Schachspiel verfolgte.
»Dein Daddy ist gut«, sagte einer der Ärzte. Das wusste ich schon. Er hatte bei großartigen Spielern gelernt wie dem polnischen Patienten, der mit meinem Vater zusammen in dem Sanatorium in Eupen auf Heilung wartete.
In seiner Novelle Der gefälschte Coupon befasst sich Lew Tolstoi mit den
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