Tolstoi Und Der Lila Sessel
miteinander verbunden sind und dass eine einzelne Tat eine lange Kette von Reaktionen und Wirkungen auslösen kann. Aber jetzt, während ich in meinem lila Sessel saß und über die Geschichte nachdachte, wurde mir klar, dass Tolstoi ein Erklärungsmuster für all das ausbreitete, was mir widerfahren war, dass er mir den Sinn meines Lebens erklärte. Alles, was ich erlebt habe – Ballspiele im Garten an warmen Sommerabenden, Reisen mit meinen Eltern, der Tag, an dem meine Schwester mich aus dem falschen Bus holte, der Unfall mit dem Polizeiauto, die vielen Male, die ich verliebt war, die Geburt meiner Kinder, der Tod meiner Schwester –, hat meinem Leben seine Umrisse gegeben. Aber der Sinn meines Lebens liegt letztendlich darin, wie ich auf die Freuden und die traurigen Ereignisse reagiere, wie ich ein Netz aus Verbindungen und Erfahrungen knüpfe und wie ich anderen zu Hilfe komme, die ihren eigenen verschlungenen Pfad durchs Leben gehen.
Das Jahr, in dem ich jeden Tag ein Buch las, war mein Jahr im Sanatorium. Es war das Jahr, in dem ich mich aus der ungesunden Atmosphäre von Wut und Trauer befreite, die mich umgeben hatte. Mein Lesejahr war mein Innehalten, mein Aussetzen in der Zeit zwischen der überwältigenden Trauer nach dem Tod meiner Schwester und der Zukunft, die jetzt vor mir liegt. Ich genas. Mehr noch, ich lernte, wie ich nach der Genesung zurückfinden konnte ins Leben.
Als ich aus dem Krankenhauszimmer lief, in dem Anne-Marie gestorben war, aus dem Zimmer, in dem ich sie zuletzt lebend gesehen hatte und sie geküsst hatte und ihr voller Zuversicht gesagt hatte, dass ich sie am nächsten Tag wiedersehen würde, lief ich weg. Fort aus dem Zimmer, in dem meine Eltern von ihrer Trauer überwältigt wurden, wo Natasha schluchzte, wo Marvin wie manisch auf und ab lief und Jack versuchte, alle zu trösten.
Drei Jahre lang war ich so schnell wie möglich gerannt und hatte versucht, mit doppeltem Tempo zu leben und zu lieben und zu lernen, um das wettzumachen, was Anne-Marie verloren hatte. Ich versuchte mich zu betäuben, um den Verlust nicht zu spüren. Als ich beschloss, ein Buch am Tag zu lesen, hörte ich endlich auf wegzulaufen. Ich setzte mich hin, ich saß still im Sessel und fing an zu lesen. Jeden Tag verschlang und verdaute ich ein Buch, ich dachte über die Autoren, die Figuren, die Schlussfolgerungen nach, die mir begegneten. Ich vertiefte mich in die Welten, die von den Autoren geschaffen worden waren, ich las über neue Möglichkeiten, die überraschenden Wendungen des Lebens zu bestehen, ich entdeckte, wie hilfreich Humor, Empathie und Anteilnahme sein können.
Mein Leben sollte nicht durch den Tod meiner Schwester eingeengt, sondern durch ihr Leben, die Art, wie sie es gelebt hatte, bereichert werden. Ihr Platz in meinem Leben ist von all dem bestimmt, was sie getan hat, von dem, was sie mir gezeigt hat, von den neuen Ideen, auf die sie mich gestoßen hat.
Nach meinem Collegeabschluss besuchte ich Anne-Marie in New York. Sie hatte für die Sommermonate eine Wohnung in Chelsea untergemietet, die in der obersten Etage eines Brownstone lag. Damals war Chelsea noch ein heikler Stadtteil, und die Bewohner waren aufstrebende Neuankömmlinge oder gehörten einer fest etablierten, seit Jahrzehnten dort ansässigen unteren Mittelschicht an, außerdem lebten dort Obdachlose, Alkoholiker und Drogenhändler.
Anne-Marie hatte gerade Marvin kennengelernt, und ich hatte mich in den Geschäftsführer eines Eissalons am Harvard Square verliebt, wo ich arbeitete. Aber an dem gemeinsamen Wochenende sprachen wir nicht über die Männer in unserem Leben. Wir sprachen über Saint-Eustache, die Kirche in Paris, deren Architektur Anne-Marie studiert hatte, darüber, wie schön die Bögen, die Zierelemente und die mächtige Fassade sind. Wir sprachen über die unterschiedlichen Reaktionen, die die Erzählungen von Ann Beattie, in deren Wohnung Anne-Marie als Untermieterin wohnte, in uns auslösten (ihre Wohnung mochten wir beide sehr gern). Anne-Marie äußerte die Vermutung, dass ich noch zu jung sei, um die Geschichten zu schätzen, und sie später mögen würde. Wir sprachen darüber, was ich mit einem Juraabschluss anfangen würde – ob ich meinen historischen Interessen folgen oder eine politische Karriere anstreben würde. Anne-Marie war überzeugt, dass ich eine gute Senatorin abgeben würde.
Am Samstagabend, lange bevor die Sonne unterging, kletterten wir durch eins der Wohnungsfenster auf den
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