Tom Sawyers Abenteuer und Streiche
ich, wie erbärmlich es von mir war, aber so hab ich's nicht gemeint, weiß Gott, wahrhaftig nicht! Und dann bin ich auch nicht herübergeschwommen, um mich über euch lustig zu machen.«
»Warum sonst?«
»Nur um dir zu sagen, daß du dich nicht um uns sorgen solltest, da wir nicht ertrunken seien.«
»Tom, Tom, ich wäre die dankbarste alte Seele in der weiten Welt, wenn ich wirklich glauben könnte, du hättest den guten Gedanken gehabt. Aber so war's gewiß nicht, Tom, so war's nicht, und das weißt du auch selber, Tom.«
»Weiß Gott, Tante, so war's, weiß Gott! Ei, ich will gleich tot umfallen, wenn's anders war.«
»Oh, Tom, lüg nicht, – tu's nicht, Kind. Es macht ja nur alles tausendmal schlimmer.«
»Es ist nicht gelogen, Tante, es ist die reine Wahrheit. Ich wollte nur nicht, daß du dich so grämen solltest, einzig und allein deshalb kam ich.«
»Ich gäb die ganze Welt drum, wenn ich das glauben könnte, – es würde fast alle deine Dummheiten aufwiegen, Tom. Ei, ich wollte gar nichts davon sagen, daß du so schlecht gewesen und davongelaufen bist, wenn ich das nur glauben könnte. Aber, Kind, Kind, es kann ja nicht sein, 's geht gegen alle Vernunft; warum hättest du's mir dann damals doch nicht gesagt und wärst so davongeschlichen?«
»Warum? Ja, siehst du, Tantchen, als ihr vom Trauergottesdienst und all dem spracht, da schoß mir der Gedanke durch den Kopf, zu kommen und uns unterdessen in der Kirche zu verstecken und ich war so voll davon, daß ich mir's nicht verderben wollte. 's war doch auch kapital, gelt? So drückte ich mich denn heimlich davon und steckte meine Rinde wieder ein.«
»Welche Rinde?«
»Ei, die Rinde, auf die ich geschrieben hab, daß wir als Piraten davongelaufen seien. Ich wollt jetzt, du wärst wach geworden, wie ich dich geküßt hab, wahrhaftig ich wollt's!«
Der strenge Ausdruck im Gesicht der Tante ließ etwas nach, plötzliche Zärtlichkeit strahlte warm aus den treuen Augen.
» Hast du mich geküßt, Tom?«
»Natürlich.«
»Hast du's wirklich getan, Tom?«
»Gewiß, Tante, gewiß und wahrhaftig!«
»Warum hast du mich geküßt, Tom?«
»Weil ich dich lieb hab und weil du da gelegen hast und geseufzt und gestöhnt, und das hat mir leid getan.«
Die Worte klangen wahr. Die alte Dame konnte ein Zittern in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken, als sie sagte:
»Küß mich noch einmal, Tom – und mach, daß du weg kommst, 's ist Zeit zur Schule, du hast mich genug geärgert.«
Im Moment, da er weg war, stürzte sie zum Schrank und riß die traurigen Überreste der Jacke hervor, in der er Seeräuber gewesen. Dann stand sie still, drückte die Lumpen an ihre Brust und flüsterte:
»Nein, ich wag's nicht. Armer Kerl, ich glaub, er hat gelogen, aber – es war so gut und lieb gelogen, ordentlich tröstlich für mein altes Herz. Ich hoffe, der Herr, – nein, ich weiß , der Herr wird ihm verzeihen, denn weiß Gott, diesmal hat mein Tom aus Gutherzigkeit geflunkert. Ich will auch gar nicht wissen, daß es geflunkert war, lieber seh ich gar nicht nach.«
So legte sie die Jacke weg und stand noch eine Minute sinnend davor. Zweimal streckte sie die Hand nach dem Kleidungsstück aus und zweimal zog sie dieselbe wieder zurück. Noch einmal wagte sie sich vor und sprach sich selber Mut zu mit dem Gedanken: Die Lüge war ja gut gemeint, von Herzen gut gemeint, es soll mich weiter nicht kümmern. Damit hatte sie die Hand in die Jackentasche versenkt. Einen Moment später las sie unter strömenden Tränen, was Tom auf jenes bewußte Rindenstück gekritzelt hatte und stammelte schluchzend:
»Jetzt könnt ich dem Jungen verzeihen und wenn er eine Million Sünden auf dem Gewissen hätte.«
19. Toms Edelmut.
In der Art und Weise, wie ihn Tante Polly küßte, lag etwas, das Tom wunderbar wohltat. Seine Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen und er fühlte sich urplötzlich wieder leichtherzig und froh. Er stürmte der Schule zu und hatte das Glück, unterwegs auf Becky zu stoßen. Da er sich immer von seiner augenblicklichen Stimmung leiten ließ, so rannte er ohne einen Moment der Überlegung auf sie zu und rief treuherzig:
»Becky, ich war heute Morgen ganz abscheulich gegen dich, ich will nie, nie wieder so sein, so lang ich lebe, nur sei wieder gut, willst du?«
Das Mädchen blieb stehen und sah ihm verächtlich ins Gesicht:
»Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, Herr Thomas Sawyer, wenn Sie mich in Zukunft mit Ihrer Gesellschaft
Weitere Kostenlose Bücher