Tom Sawyers Abenteuer und Streiche
die an ihn glauben und seine Gebote halten, obgleich ich, weiß Gott, ein unwürdiges Gefäß seiner Güte bin. Wenn er aber nur denen, die's verdienen, seinen Segen geben wollte, und ihnen helfen in der Not und der Trübsal, so würde man hier unten keinen frohen Ton mehr hören, und wenige würden zu seiner Ruhe eingehen, wenn die lange Nacht einst kommt. So, und nun hebt euch fort, Sid, Mary, Tom – ihr habt mich lang genug aufgehalten.«
Die Kinder trollten zur Schule und die alte Dame machte sich fertig, um Frau Harper aufzusuchen und ihren Unglauben mit Toms wunderbarem Traum zu besiegen. Sid war zu klug, um den Gedanken laut werden zu lassen, der ihn beseelte, als er das Haus verließ. Dieser Gedanke war:
»Ziemlich durchsichtig – ein so ellenlanger Traum und ohne den winzigsten, kleinsten Irrtum! Wenn das nicht –«
Welch ein Held war Tom geworden! Er hüpfte und galoppierte jetzt nicht mehr, wenn er auf der Straße ging, sondern mit würdevoller Haltung, wie sie einem gewesenen Piraten geziemte, stolzierte er einher in dem Bewußtsein, daß das Auge der Öffentlichkeit auf ihm ruhe. Das war in der Tat der Fall. Wohl versuchte er sich zu stellen, als sähe er die Blicke nicht, als höre er die Bemerkungen nicht, während er so dahinschritt, und doch waren sie Nektar und Ambrosia für ihn. Kleinere Jungen folgten truppweise seinen Spuren, stolz darauf, mit ihm gesehen, von ihm geduldet zu werden, der an ihrer Spitze einhermarschierte wie der Tambourmajor an der Spitze seiner Kompagnie. Jungen seines Alters taten, als wüßten sie gar nichts davon, daß er überhaupt weggewesen, verzehrten sich aber trotzdem beinahe vor Neid. Sie würden alles drum gegeben haben, seine gebräunte, sonnverbrannte Haut, seine glänzende, weltkundige Berühmtheit zu besitzen, Tom aber hätte keinen dieser beiden Faktoren hergegeben, nicht für alles – nicht für einen Zirkus!
In der Schule machte man so viel Aufhebens von ihm und Joe, solches Staunen, solche Bewunderung strahlte den beiden aus allen Augen entgegen, daß die zwei Helden gar bald eine unerträgliche Aufgeblasenheit zeigten. Sie begannen den eifrig lauschenden Hörern ihre Abenteuer zu schildern, – ohne aber je über den Anfang hinauszukommen, denn eine solche Erzählung konnte kein Ende haben, wenn eine Einbildungskraft wie die ihre stets unerschöpfliches Material lieferte. Als sie dann schließlich ihre Pfeifen hervorzogen und mit größter Unbefangenheit zu schmauchen begannen – da war der Gipfel des Ruhms erklommen.
Tom beschloß, sich unabhängig zu machen von Becky Thatcher, Ruhm war ihm genügend, nach Liebe fragte er nichts mehr. Er wollte sein Leben dem Ruhme weihen. Jetzt, da er ein berühmter Held geworden, werde sie wohl versuchen, Frieden zu schließen, dachte er. Aber sie sollte sehen, daß er mindestens so gleichgültig sein könne wie andere Leute. Dort kam sie eben. Tom tat, als bemerke er sie nicht. Er wandte sich ab und einer Gruppe von Jungen und Mädchen zu, mit denen er eifrig zu plaudern begann. Bald sah er, daß sie mit glühenden Wangen und glänzenden Augen umhertrippelte, ihre Gefährtinnen neckte, sie herumjagte und vor Lachen aufkreischte, wenn es ihr gelang, eine zu erhaschen. Auch bemerkte er, daß dies meistens in seiner unmittelbaren Nachbarschaft der Fall war und daß ihn dann jedesmal ihr Blick streifte. Das schmeichelte seiner sündlichen Eitelkeit und anstatt sich dadurch versöhnen zu lassen, stellte er sich nur noch mehr, als ob er von ihrer Existenz überhaupt nichts wisse. Alsbald gab sie das Herumtollen auf, drückte sich unentschlossen von einer Gruppe zur anderen, seufzte ein-, zweimal und sah verstohlen und bedeutungsvoll nach Tom hin. Jetzt bemerkte sie, daß dieser sich angelegentlich mit Anny Lorenz zu tun machte. Ein jäher Schmerz durchzuckte sie, ihr ahnte nichts Gutes, Sie versuchte sich fortzustehlen, ihre Füße aber wurden zu Verrätern und trugen sie statt dessen gerade zu der Gruppe hin. Einem Mädchen, das dicht neben Tom stand, rief sie mit übertriebener Lebhaftigkeit zu: »Ei, Mary Austin, du böses Mädchen, warum warst du gestern nicht in der Sonntagsschule?«
»Ich war ja dort – hast du mich nicht gesehen?«
»Nein! Warst du wirklich dort? Wo hast du denn gesessen?«
»In der Klasse von Fräulein Peters, wo ich immer sitze. Ich hab dich gesehen.«
»Wirklich? Nein, wie komisch, daß ich dich nicht gesehen habe, ich wollte dir von dem Picknick erzählen.«
»O, das ist lustig!
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